Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



29. September 1998, von Michael Schöfer
Historische Chance: Gestaltungsmehrheit für Rot-Grün


Seit 18 Jahren engagiere ich mich in der Politik, anfangs in der SPD und nun schon fast 10 Jahre bei den GRÜNEN. Die meiste Zeit davon, während der Ära Kohl, befand ich mich in der Opposition. Nach dem 27. September ist das aller Voraussicht nach anders, denn bei der Bundestagswahl haben SPD und GRÜNE einen eindeutigen Wählerauftrag erhalten. Mit 345 Bundestagsmandaten, 21 mehr als alle übrigen Parteien zusammen, verfügt Rot-Grün über eine komfortable parlamentarische Gestaltungsmehrheit. Wider Erwarten hat selbst der Einzug der PDS keine Große Koalition zur Folge (ich schreibe dies am Tag nach der Wahl in der Hoffnung, Gerhard Schröder möge die sich bietende Chance für den Politikwechsel nutzen und nicht leichtfertig verspielen).

Wir GRÜNE werden uns allmählich umgewöhnen müssen, die Arbeit in einer Regierungspartei unterscheidet sich nämlich deutlich von der in einer Oppositionspartei. Wenn künftig von der Regierungskoalition die Rede ist, betrifft das uns. Am Anfang sind es meist die banalen Dinge, die den Wandel repräsentieren. Früher mußten wir notgedrungen - mangels Mehrheit - in der Kritik am Handeln unserer Gegner verharren, jetzt können wir endlich selbst gestalten. Das beinhaltet freilich auch, die in Zusammenarbeit mit dem Koalitionspartner getroffenen Entscheidungen nach außen hin entsprechend zu vertreten. Wir werden uns häufiger als in der Vergangenheit für unsere Politik rechtfertigen und sie gegen heftige Widerstände der einzelnen Interessengruppen verteidigen müssen. Der zurückliegende Wahlkampf war insofern nur ein kleiner Vorgeschmack auf kommende Herausforderungen.

Regierungsarbeit ist aber nicht nur eine Frage der mentalen Einstellung der Beteiligten, vielmehr hat jetzt unser Abstimmungsverhalten im Bundestag konkrete Auswirkungen auf die gesellschaftliche Realität dieser Republik. Unser Einfluß und die daraus resultierende Verantwortung ist also beträchtlich gestiegen. In Zukunft werden sich die Verhältnisse durch eine grüne Regierungsbeteiligung hoffentlich zum Positiven verändern. Wir werden das bald an den einschlägigen Indikatoren, beispielsweise den Arbeitslosenzahlen, ablesen können. Die Realität ist ein ständiger Belastungstest für die Regierung. Dagegen auf Dauer anregieren zu wollen, ist letztlich sogar Helmut Kohl mißlungen. Flexibilität ist somit eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen von Rot-Grün.

Es wird äußerst schwierig, die in 16 Jahren konservativer Mehrheit angehäufte Erblast (Schulden- und Arbeitslosenrekorde) abzutragen. Möglicherweise einigt sich die neue Koalition sehr schnell auf eine umfassende Steuerreform, die dann wahrscheinlich erstmals ökologische Elemente enthalten wird. Der Einstieg in den Ausstieg aus der Atomkraft ist mit der SPD ebenfalls zu machen - zumindest sofern sie ihre eigenen Beschlüsse wirklich ernst nimmt. Doch wir dürfen nicht zuviel erwarten, unsere Rolle nicht maßlos überschätzen. Mit 6,7 Prozent der Stimmen werden die GRÜNEN - wenn ich das hier einmal völlig unökologisch sagen darf - keine Bäume ausreißen. Dessen müssen wir uns unaufhörlich bewußt sein. Die Stabilität der rot-grünen Zusammenarbeit ist ein konstituierendes Element für die Nachhaltigkeit des Wandels. Und letzteren wollen wir ja schließlich alle. Aus diesem Grund sollten wir in gleichem Maße auf Konfliktfähigkeit und Selbstdisziplin Wert legen.

Wir haben die historische Gelegenheit, nicht nur in der Bundesrepublik, sondern darüber hinaus auch in Europa wesentliche Veränderungen herbeizuführen. Die rot-grüne Bundesregierung kann zunächst im Einklang mit der Mehrheit des Bundesrates regieren. Ein nicht unerheblicher Vorteil, wie man weiß. Außerdem werden die wichtigsten europäischen Regierungen (Frankreich, Großbritannien) ebenfalls sozialdemokratisch regiert, in der EU sind die Konservativen nur noch in 3 Mitgliedstaaten an der Macht (Spanien, Belgien, Luxemburg). Daher stehen etwa der ökologischen Steuerreform oder dem Ausbau der Union zu einer Sozialgemeinschaft - entgegen den Behauptungen der abgewählten konservativ-liberalen Regierung - keine gravierenden außenpolitischen Hindernisse im Weg. Im Gegenteil, Deutschland nahm in der EU leider allzu oft die Rolle des Bremsers ein (Kohl behauptete dann zu Hause, alles scheitere an der mangelnden Übereinstimmung in Europa). Von nun an kann Gas gegeben werden.

Wann sonst, wenn nicht jetzt, können wir den ökologisch-sozialen Umbau der Industriegesellschaft beginnen? Wann sonst, wenn nicht jetzt, haben wir die Chance, das Phänomen Globalisierung in den Griff zu bekommen? Wann sonst, wenn nicht jetzt, können wir neue, umweltfreundliche Technologien entwickeln und einsetzen? Wann sonst, wenn nicht jetzt, können wir das Fundament für eine nachhaltige Zukunft setzen? Wann sonst, wenn nicht jetzt? Ausschlaggebend für den Erfolg dieses Bündnisses sind die Ergebnisse unserer Politik. Wir haben vier Jahre Zeit, die Wähler von der Richtigkeit ihrer Entscheidung zu überzeugen. Ergreifen wir die Chance. Gestalten macht unendlich viel Spaß.