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19. August 1999, von Michael Schöfer
Wertegemeinschaft


Der westlichen Wertegemeinschaft wird Tag für Tag durch beispielhaftes Handeln Leben eingehaucht. Das ist zwar meist nicht weiter erwähnenswert, denn an derartig atemberaubende Mitteilungen haben wir uns inzwischen im allgemeinen recht gut gewöhnt; in der FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 7. August 1999 ist es jedoch wieder einmal besonders deutlich geworden. Nein, nein, keine Angst. Es geht jetzt ausnahmsweise nicht um den westlichen Wertebewahrer Türkei, in dessen Staatsgebiet nach wie vor systematisch gefoltert wird. Es geht diesmal um einen lateinamerikanischen Pensionär namens Augusto Pinochet und darum, ihn auf elegante Art loszuwerden, bevor man ihn überhaupt bekommt.

Hat die NATO nicht erst kürzlich einen richtigen Krieg geführt, bloß um - wie man beharrlich behauptet - dem serbischen Diktator Slobodan Milosevic in die blutbefleckten Arme zu fallen? Richtig. Und die Tatsache, daß dieser Kriegseinsatz heftig mit dem Völkerrecht kollidierte, hat der NATO auch nicht viel ausgemacht, oder? Nein, ganz gewiß nicht. Denn wenn das Völkerrecht dem Menschenrecht widerspricht, haben wir uns damals sagen lassen, ist letzterem fraglos der Vorrang einzuräumen.

Aber zum Ausgleich dafür muß dem Recht nun offenbar an anderer Stelle wieder gehörig Respekt verschafft werden. Etwa in Spanien. Dort besteht die Staatsanwaltschaft nämlich neuerdings auf dem feinsinnigen Unterschied zwischen legaler und illegaler Folter. Und weil es nicht um Milosevic, sondern in diesem delikaten Fall um den chilenischen Ex-Diktator Pinochet geht, wird jeder Buchstabe des spanischen Strafgesetzbuches auf die juristische Goldwaage, sprich zugunsten des Beschuldigten ausgelegt.

Es geht um den Vorwurf, Pinochet habe foltern lassen. "Unter die einschlägige spanische Vorschrift fielen allein Mißhandlungen, mit denen Geständnisse eines Verdächtigen und Informationen über die ihm zur Last gelegte Tat erpreßt werden sollten. In Chile sei aber gefoltert worden, um die Bevölkerung schlechthin einzuschüchtern oder aber um belastende Aussagen über Dritte zu gewinnen", ließ die Staatsanwaltschaft verlauten. Nach spanischem Recht soll sich Pinochet also ihrer Ansicht nach nicht der Folter schuldig gemacht haben. Daß in Chile gefoltert wurde, scheint zumindest festzustehen. Immerhin. Aber die Motive des Folterers lassen halt keine Verurteilung zu. Leider. Bei so viel Juristenpech haben die Anklagevertreter bestimmt einige Krokodilstränen vergossen.

Ja wenn das so ist. Warum hat man uns das nicht gleich gesagt? Da hätten wir uns ja das ganze Theater sparen können. Ob Pinochet jetzt von Spanien für die zu Unrecht erlittene Haft eine Entschädigung verlangen kann? Wer weiß, wer weiß. Leichtfertig abstreiten würde ich das jedenfalls nicht. Dem Recht muß schließlich ohne Ansehen der Person Geltung verschafft werden. Bekanntlich sind wir eine Wertegemeinschaft. Und, wie ich mir beiläufig hinzuzufügen erlaube, eine ganz besonders saubere.