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04. August 2005, von Michael Schöfer
Die Wahl ist noch nicht gelaufen


"Noch 45 Tage bis zum Wechsel", kündigt die offenbar siegessichere CDU auf ihrer Website an. Kommt es wirklich zum Wechsel? Im Mai, unmittelbar nach dem rot-grünen Debakel bei der Landtagswahl in NRW, hätte man in der Tat seelenruhig sein gesamtes Vermögen auf den Sieg der Union bei der vorgezogenen Bundestagswahl setzen können. So ergab eine Umfrage von Infratest dimap vom 2. Juni 2005 für die Union imponierende 48 Prozent, die SPD kam dagegen auf lediglich 28 Prozent. Mittlerweile ist die Union jedoch auf 42 Prozent gesunken. Die Umfragewerte der SPD haben sich auf niedrigem Niveau stabilisiert, sie wird nach wie vor auf beschämende 28 Prozent taxiert, allerdings sind die Anteile der Linkspartei (ehedem PDS) ungeheuer gewachsen. Waren für die Linkspartei am 2. Juni nur magere 4 Prozent zu verzeichnen, kommt die um die WASG angereicherte Linkspartei nun auf erstaunliche 12 Prozent. Und plötzlich scheint alles wieder offen zu sein. Die Mehrheit für Schwarz-Gelb fällt von Umfrage zu Umfrage knapper aus.

Im Grunde kann sich die Union nur selbst ein Bein stellen. Schön, daß sie diese Gelegenheit ausgiebig zu nutzen scheint. In ihrem kürzlich veröffentlichten Wahlprogramm ist sie in entscheidenden Punkten vage geblieben, etwa bei der Finanzierung der Kopfpauschale. Mit ihrer Mehrwertsteuererhöhung hat sie sich darüber hinaus bei vielen Wählern ziemlich unbeliebt gemacht. Doch das war nur das Vorgeplänkel, jetzt unterlaufen der Union auch schlimme handwerkliche Fehler. So hat sich gerade Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) selbst aus der Riege der Ministeranwärter, er war in Merkels Schattenkabinett als Verteidigungsminister im Gespräch, herauskatapultiert. "Ich glaube, dass die von der SED erzwungene Proletarisierung eine der wesentlichen Ursachen ist für Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft", gab Schönbohm als Erklärung für die neunfache Kindstötung in Frankfurt/Oder kund. [1] Selbst Parteifreunde sind ob der primitiven Argumentationskette Schönbohms entsetzt. Die Linkspartei kann sich über solche Entgleisungen nur freuen, werden ihr doch dadurch im Osten die Wähler geradezu in die Arme getrieben.

Nun ist Merkel gleich zweimal hintereinander ordentlich ins Fettnäpfchen getappt. Die Kanzlerkandidatin mochte sich nämlich dem Amtsinhaber nur in einem TV-Duell stellen. Der telegene Gerhard Schröder, so offenbar die Furcht ihrer Berater, könnte vor den Kameras entscheidend punkten. Doch mit ihrer Weigerung, sich zwei Fernsehduellen zu stellen, hinterläßt sie den Geruch von Feigheit. Angie bringt es nicht, deshalb kneift sie, so der allgemeine Tenor. Zu diesem negativen Eindruck gesellt sich zudem der Lapsus ihrer Verwechslung von Brutto- und Nettolöhnen. Im ARD-Sommerinterview sagte sie, daß "die Bruttolöhne um ein Prozent sinken, wenn wir die Lohnzusatzkosten senken". [2]. Bekanntlich steigt aber der Nettolohn, wenn die Lohnzusatzkosten sinken. Der Bruttolohn hingegen bleibt unverändert. Doch das war kein einmaliger Ausrutscher in der Hitze des Gefechts, denn in einem Interview mit der Illustrierten "Bunte" legte Angela Merkel Tage später nach: Die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung "bedeutet für die Arbeitnehmer ein Prozent mehr Bruttolohn". Zwei unterschiedliche Versionen - und beide grottenfalsch.

Ein bemerkenswerter Fehler für eine Partei, die die Wirtschaftskompetenz gepachtet zu haben scheint und der jetzigen Regierung auf diesem Gebiet hochnäsig Inkompetenz attestiert. "Noch 45 Tage bis zum Wechsel." Sagen wir lieber: "Noch 45 Tage bis zur Wahl" (sofern das Bundesverfassungsgericht dem zustimmt). In diesen 45 Tagen kann die Herausforderin schließlich noch jede Menge peinliche Fehler machen. Mit anderen Worten: Die Wahl ist noch nicht gelaufen. Eine Rot-rot-grüne Mehrheit ist rechnerisch durchaus möglich. Ich bin gespannt, ob die SPD dann wirklich lieber als Juniorpartner in Merkels Boot steigt, als bei einer möglichen Alternative den Kapitän zu spielen.

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[1] SPIEGEL-Online vom 03.08.2005
[2] TAZ vom 04.08.2005