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05. Februar 2008, von Michael Schöfer
Ist das Mehrheitswahlrecht der Stein der Weisen?


Angesichts der äußerst schwierigen Regierungsbildung nach der hessischen Landtagswahl [1] gibt es bereits Stimmen, die nach dem Mehrheitswahlrecht rufen. Zum Beispiel Ernst Benda, der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts: "Wir sind durch den Erfolg der Linkspartei bundesweit auf dem Kurs zu einer Fünf-Parteien-Demokratie. Mit immer größerem Zwang zu Koalitionen mit immer mehr Parteien. Das führt zu endlosen Kompromissen und verhindert klare, eindeutige und sinnvolle Politik - ein großer Schaden für unser Land". [2]

Das Mehrheitswahlrecht hat zweifellos den Reiz, klare Mehrheitsverhältnisse hervorzubringen. In Frankreich oder Großbritannien verfügt die Regierungspartei in der Regel über die absolute Mehrheit der Parlamentsmandate und kann demzufolge, ohne mit einer anderen Partei Kompromisse schließen zu müssen, ungehindert regieren. In Frankreich stellt die bürgerliche UMP in der Nationalversammlung 313 von insgesamt 577 Abgeordneten, die Sozialisten haben hingegen nur 186 (weitere im Parlament vertretene Parteien fallen nicht ins Gewicht). Eine überwältigende Mehrheit - und das wohlgemerkt mit rund 40 Prozent der Stimmen. [3]

Noch krasser: Die Labour Party in Großbritannien kam bei der letzten Wahl des Unterhauses (insges. 646 Abgeordnete) auf 356 Mandate - mit einem Stimmenanteil von lediglich 35,2 Prozent. Die Konservative Partei kam demgegenüber mit 32,3 Prozent, also bloß 2,9 Prozent weniger, auf magere 198 Mandate. [4] Kleinere Parteien spielen hier ebenfalls keine entscheidende Rolle. In Deutschland bekäme man mit 35,2 Prozent nie und nimmer die absolute Mehrheit der Parlamentssitze.

Der Nachteil der Mehrheitswahl liegt auf der Hand: Kleine Parteien haben kaum Chancen, jemals die Mehrheit zu erringen und können oft froh sein, wenn sie überhaupt ins Parlament kommen. Obgleich das Wahlrecht in Frankreich und Großbritannien unterschiedlich ist (absolute versus relative Mehrheitswahl) [5], gilt in beiden Ländern der Grundsatz: "the winner takes all." Der Gewinner eines Wahlkreises bekommt das Mandat, die anderen gehen völlig leer aus.

Die Mehrheitswahl ist also weniger repräsentativ als die Verhältniswahl, weil sie den Pluralismus in der Bevölkerung nicht 1 zu 1 widerspiegelt. Zudem fördert sie das Beharrungsvermögen, weil hier die Durchsetzung neuer Gedanken bedeutend schwerer ist. Beispiel: Die Grünen sitzen seit 1983 im Deutschen Bundestag, die Green Party of England and Wales, die größte grüne Partei Großbritanniens, hat bislang noch nie den Einzug ins House of Commons geschafft. Der Einzug der Grünen in den Deutschen Bundestag hat die Politik nachhaltig beeinflusst, weil die anderen Parteien plötzlich Rücksicht auf Umweltbelange nehmen mussten. Der beschlossene Atomausstieg wäre ohne diesen Erfolg undenkbar gewesen.

Wie würde das Ergebnis der Hessenwahl aussehen, wenn wir dort am 27.01.2008 das Mehrheitswahlrecht gehabt hätten? Nachfolgend die Gewinner in den einzelnen Wahlkreisen (Zweitstimmen) [6]:


Wahlkreise Gewinner
01 Kassel-Land I SPD
02 Kassel-Land II SPD
03 Kassel-Stadt I SPD
04 Kassel-Stadt II SPD
05 Waldeck-Frankenberg I SPD
06 Waldeck-Frankenberg II SPD
07 Schwalm-Eder I SPD
08 Schwalm-Eder II SPD
09 Eschwege-Witzenhausen SPD
10 Rotenburg SPD
11 Hersfeld SPD
12 Marburg-Biedenkopf I SPD
13 Marburg-Biedenkopf II SPD
14 Fulda I CDU
15 Fulda II CDU
16 Lahn-Dill I CDU
17 Lahn-Dill II SPD
18 Gießen I SPD
19 Gießen II SPD
20 Vogelsberg SPD
21 Limburg-Weilburg I CDU
22 Limburg-Weilburg II CDU
23 Hochtaunus I CDU
24 Hochtaunus II CDU
25 Wetterau I CDU
26 Wetterau II SPD
27 Wetterau III CDU
28 Rheingau-Taunus I CDU
29 Rheingau-Taunus II CDU
30 Wiesbaden I SPD
31 Wiesbaden II CDU
32 Main-Taunus I CDU
33 Main-Taunus II CDU
34 Frankfurt am Main I CDU
35 Frankfurt am Main II SPD
36 Frankfurt am Main III CDU
37 Frankfurt am Main IV CDU
38 Frankfurt am Main V SPD
39 Frankfurt am Main VI CDU
40 Main-Kinzig I CDU
41 Main-Kinzig II CDU
42 Main-Kinzig III CDU
43 Offenbach-Stadt SPD
44 Offenbach Land I CDU
45 Offenbach Land II CDU
46 Offenbach Land III CDU
47 Groß-Gerau I SPD
48 Groß-Gerau II SPD
49 Darmstadt-Stadt I SPD
50 Darmstadt-Stadt II SPD
51 Darmstadt-Dieburg I SPD
52 Darmstadt-Dieburg II SPD
53 Odenwald SPD
54 Bergstraße I CDU
55 Bergstraße II CDU
Ergebnis = 29 SPD / 26 CDU

Die Mehrheitsverhältnisse im Hessischen Landtag wären bei einer Mehrheitswahl eindeutig:

Ergebnis der Landtagswahl vom 27.01.2008


Andrea Ypsilanti könnte demnach mit einer Mehrheit von drei Mandaten regieren. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass hier natürlich nur die Ergebnisse der aufs Verhältniswahlrecht zugeschnittenen Wahlkreise zugrundegelegt werden konnten. Bei Einführung des Mehrheitswahlrechts käme je nach System (ob absolut oder relativ) und des Zuschnitts der Wahlkreise ein anderes Ergebnis zustande. Der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Nimmt man etwa bei der Hessenwahl die Ergebnisse der Erststimmen (Wahlkreisbewerber), gewinnt wiederum die CDU knapp mit 28 zu 27 Mandaten. [7] Können die Wähler zwei Stimmen abgeben, verteilen sie diese, wie man unschwer erkennt, nach taktischen Gesichtspunkten. Aus diesem Grund unterscheiden sich die Ergebnisse von Erst- und Zweitstimmen beträchtlich.

CDU 13.747
SPD 13.089
FDP 5.565
Grüne 4.792
Linke 2.865

Linkes Lager: 20.746
Rechtes Lager: 19.312

Diesen Wahlkreis hat die CDU mit einem Vorsprung von 658 Stimmen (Zweitstimmergebnis) gewonnen, obwohl es dort - unter Lagergesichtspunkten betrachtet - eine linke Mehrheit gibt. [8] SPD, Grüne und Linke haben zusammen mehr Stimmen als CDU und FDP, trotzdem wäre das Mandat bei einer reinen Mehrheitswahl an die CDU gegangen. Ist das nicht ungerecht? Da die Wähler das natürlich einkalkulieren, stellen sie sich darauf ein. Die Annahme, Anhänger der Grünen und der Linken würden bei einer Mehrheitswahl entgegen ihren üblichen Präferenzen häufiger SPD wählen, ist nicht realitätsfremd. Stimmen für kleinere Parteien sind nämlich beim Mehrheitswahlrecht verschenkte Stimmen, da sie - entgegen den Regeln bei der Verhältniswahl - keinerlei Einfluss auf die Sitzverteilung im Parlament besitzen. Mit anderen Worten: Die kleinen Parteien würden vermutlich über kurz oder lang aus sämtlichen Parlamenten verschwinden. Das Mehrheitswahlrecht führt ja im Regelfall gerade deshalb zu eindeutigen Mehrheitsverhältnissen.

Beide Systeme, Mehrheitswahl und Verhältniswahl, haben Vor- und Nachteile. Einerseits bliebe uns bei Ersterem höchstwahrscheinlich die ständige Suche nach einem Kompromiss erspart. Als absolutes Negativbeispiel hierfür gilt wohl Italien, wo soeben die 61. Nachkriegsregierung - eine Koalition aus elf Parteien! - gescheitert ist. Andererseits wäre das Mehrheitswahlrecht aufgrund der Machtzusammenballung anfälliger für Missbrauch - ein Aspekt, der insbesondere vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte nicht vernachlässigt werden sollte. Der Föderalismus, und damit einhergehend die daraus resultierende gegenseitige Blockademöglichkeit der Institutionen (Bundestag, Bundesrat), stünde zwangsläufig auf dem Prüfstand. Entspricht das unserer Tradition? Außerdem: Sind die Ergebnisse der Politik in Ländern mit Mehrheitswahlrecht tatsächlich besser als hierzulande?

Nichtsdestotrotz, das Mehrheitswahlrecht hat unstreitig seinen Reiz. Beim Verhältniswahlrecht kann ein Wahlverlierer, entsprechende Koalitionsmöglichkeiten vorausgesetzt, häufig weiterregieren. Beim Mehrheitswahlrecht sind Niederlagen dagegen oft gleichbedeutend mit dem Machtverlust. Insofern ist es für den Wähler überschaubarer. Wenn die neue Regierung nicht gut genug arbeitet, findet sie sich nach einer Legislaturperiode eben auf den harten Oppositionsbänken wieder. Allerdings führen derartige Machtwechsel bisweilen auch zu einem abrupten Politikwechsel (Achterbahneffekt).

Das Mehrheitswahlrecht à la Großbritannien ist mir zugegebenermaßen nicht unsympathisch, dennoch sollte man davon keine Wunderdinge erwarten. Es ist kein Allheilmittel für unsere politischen Probleme. Und strenggenommen sind wir bislang mit unserem Wahlsystem recht gut gefahren. Der Zwang zu Kompromissen ist nicht per se schädlich. Im Gegenteil, ein auf Konsens angelegtes politisches System hat zweifellos auch Vorteile. Ob der schädliche Einfluss der Lobbyisten oder das sture Festhalten unserer Ökonomieprofessoren am Neoliberalismus bei Gültigkeit des Mehrheitswahlrechts weniger ausgeprägt wäre, ist fraglich. In Bezug auf die Unaufrichtigkeit der Politiker, die heute leichtfertig das eine versprechen, um anderntags das andere durchzusetzen, gilt das Gleiche. (Ist die SPD wirklich weniger neoliberal als die CDU? Ist die SPD überhaupt links? Wir erinnern uns: Hartz IV wurde unter einem SPD-Kanzler eingeführt.) Ob das Mehrheitswahlrecht mit alledem aufräumen würde, darf man daher mit Fug und Recht bezweifeln.

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[1] siehe Die Glaubwürdigkeitsfalle vom 31.01.2008 und Hessenpuzzle 29.01.2008
[2] DerWesten vom 04.02.2008
[3] Wikipedia, Nationalversammlung (Frankreich)
[4] Wikipedia, Britische Unterhauswahlen 2005
[5] siehe Wikipedia, Mehrheitswahl
[6] Hessisches Statistisches Landesamt
[7] Hessisches Statistisches Landesamt
[8] Hessisches Statistisches Landesamt