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08. Januar 2009, von Michael Schöfer
Beschäftigung mit Kinkerlitzchen ist reine Zeitverschwendung


Die Finanzkrise hat definitiv die Realwirtschaft erreicht, so sind zum Beispiel in Deutschland im Jahr 2008 die Pkw-Neuzulassungen auf 3,09 Mio. gesunken. Das ist gegenüber 2007 ein Minus von 1,9 Prozent. [1] Damit setzt sich der negative Trend bei den Neuzulassungen weiter fort. Im Jahr 2006 wurden hierzulande noch 3,47 Mio. Pkw neu angemeldet. [2] Die Autobauer haben somit gegenüber dem Stand von vor zwei Jahren ein Minus von 10,9 Prozent zu verkraften. Und im Krisenjahr 2009 befürchten die Hersteller nicht ohne Grund zweistellige Absatzeinbrüche.

Die Politik müsse "klare Rahmenbedingungen" schaffen, fordert die Autolobby, "um das Vertrauen der Verbraucher zu stabilisieren und deren Kaufbereitschaft wieder zu stärken". Damit steht die Autolobby nicht alleine, denn plötzlich entdecken fast alle Branchen die Nöte der Beschäftigten. Ganz so, als sei der dahinsiechende Binnenmarkt, der auf die schwache Massenkaufkraft zurückzuführen ist, ein völlig neues Phänomen. Die Nettorealverdienste je Arbeitnehmer und Jahr sind seit der Wiedervereinigung von 16.713 Euro (1991) auf 17.025 Euro (2007) gestiegen, das ist ein Plus von mageren 1,87 Prozent. [3] Neu ist das Ganze also nicht. Im Gegenteil, die Entwicklung war seit langem absehbar.

Für den starken Rückgang der Produktion (nicht nur in der Automobilindustrie) wird hauptsächlich die Finanzkrise verantwortlich gemacht. Doch stimmt das wirklich? Ist die Finanzkrise nicht vielmehr bloß der Auslöser gewesen, während die eigentliche Ursache in einer seit langem schwelenden strukturellen Fehlentwicklung zu suchen ist? Exportweltmeister Deutschland hat als Volkswirtschaft in den letzten Jahren extrem viel verdient (und damit gehörig zum Ungleichgewicht auf dem Weltmarkt beigetragen), aber die im Ausland erwirtschafteten Milliarden sind, wie die dürftige Reallohnentwicklung belegt, an den Arbeitnehmern größtenteils vorbeigegangen. Es geht demzufolge nicht darum, das "Vertrauen" der Verbraucher zu stabilisieren und die "Kaufbereitschaft" zu stärken, sondern deren Einkommen anzuheben. Harte Vorteile in Euro und Cent anstatt psychologische Unterstützung. Die Arbeitnehmer leiden nicht an "mangelnder Kauflaune", wie die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) gerne unterstellt, sie leiden an hinterherhinkenden Löhnen.

Die Vorschläge der Politik, wie man die Kaufkraft der Verbraucher aufpäppelt, sind irgendwie putzig. Die Union möchte u.a. den steuerfreien Grundfreibetrag von 7.664 Euro auf 8.004 Euro erhöhen, das bringt dem einzelnen Steuerzahler maximal 80 Euro. Pro Jahr! Und diejenigen, die wegen ihres geringen Einkommens gar keine Steuern zahlen, gehen vollkommen leer aus. Wird der Sonderbeitrag der Arbeitnehmer zur Krankenversicherung in Höhe von 0,9 Prozent künftig vom Staat übernommen, wie von der SPD gewünscht, würde der Durchschnittsverdiener pro Monat 22,50 Euro sparen. Entlastet man, wie von der Union gefordert, Arbeitnehmer und Arbeitgeber gemeinsam, bleibt dem Durchschnittsverdiener unter dem Strich lediglich ein Gewinn von 11,25 Euro. [4] Dafür kann er vielleicht ein Schnitzel mehr essen. Ohne Getränk, versteht sich. Beträge, die die Menschen kaum hinter dem Ofen hervorlocken werden. Viel bewegen wird die Politik mit solchen Maßnahmen nicht.

Folglich wäre es viel erfolgversprechender, die stagnierende Einkommensentwicklung anders anzupacken. Doch über die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns wird nach wie vor heftig gestritten. Und die Agenda-Politik, die zu einer drastischen Ausweitung des Niedriglohnsektors geführt hat, wird von den Regierenden sogar noch gelobt. Angeblich stünden wir ohne Agenda 2010 viel schlechter da. Genau darüber gehen die Meinungen auseinander, weil viele die Agenda-Politik als ein Teil des Problems bewerten, und nicht als bereits vor Jahren vorweggenommener Teil der Lösung. Die Hartz IV-Sätze deutlich zu erhöhen, würde sich wegen der hohen Konsumquote der Empfänger recht schnell positiv auswirken. Im Grunde gehört Hartz IV auf den Müllhaufen der Geschichte.

Wahrscheinlich muss man ohnehin mit einem Mix von Maßnahmen auf die Wirtschaftskrise reagieren:

Kurzfristig sollte man an die Bürger Steuerschecks austeilen, gestaffelt nach Einkommen (je geringer das Einkommen, desto höher der Betrag - anders als es die USA angegangen sind). Zwar haben diese nur einen Strohfeuereffekt, sind dafür aber rasch wirksam. Bei Bedarf kann man das mehrfach wiederholen.

Außerdem brauchen wir ein Investitionsprogramm, das insbesondere auf Zukunftstechnologien setzt, wie etwa den Ausbau der regenerativen Energien. Das schafft Arbeitsplätze (siehe Windkraftindustrie) und reduziert die volkswirtschaftlichen Kosten für importierte Energie. Gleichzeitig verringern entsprechende Investitionen die Abhängigkeit vom Ausland, was wir in der aktuellen Gaskrise gut gebrauchen könnten. Zugegeben, es dauert etwas länger, bis so ein Investitionsprogramm greift, dafür ist es umso nachhaltiger. Nützlich wäre, die Realisierung desselben mit dem Aufbrechen des Oligopols der Energieversorger zu unterstützen.

Schließlich müssen wir unsere Steuer- und Sozialpolitik generell überdenken. Das neoliberale Dogma beinhaltete die konsequente Kostenentlastung der Unternehmen, die Mehrbelastung hat man dann peu à peu den Arbeitnehmern aufgebürdet (teilweise durch Beitragserhöhungen, teilweise durch massive Verringerung der Leistungen). Warum nehmen wir die Krise nicht zum Anlass, unser Sozialsystem vollständig von der Beitragsfinanzierung auf die Finanzierung durch Steuern umzustellen? Auf diese Weise würden sich alle Einkünfte, egal wo und wodurch sie entstehen, am Sozialsystem beteiligen.

Es gab und gibt gute Vorschläge, das Problem ist die Umsetzung. Momentan hat man noch den Eindruck, die Politik denkt beim Krisenmanagement hauptsächlich an die Bedienung ihrer jeweiligen Klientel. Bezeichnend hierfür sind die nächtlichen Kungelrunden, die nach dem altbekannten Motto "gibst du mir, gebe ich dir" abzulaufen scheinen. Die bevorstehenden Wahlen tun ein Übriges. Wer so handelt, hat den Ernst der Lage offensichtlich nicht erkannt. Es droht die Kernschmelze des Kapitalismus - und die Regierenden erschöpfen sich bislang in kleinlichem Parteiengezänk. Eine Politik, die nicht - wie in der Vergangenheit - von den Lobbyisten diktiert wird, ist jedoch notwendiger denn je. Ich fürchte, die Krise ist so massiv (die Teilverstaatlichung der Commerzbank lässt grüßen), dass die Beschäftigung mit Kinkerlitzchen (wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass) reine Zeitverschwendung ist.

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[1] Verband der Automobilindustrie, Pressemeldung vom 06.01.2009
[2] Verband der Automobilindustrie, Pressemeldung vom 06.01.2009
[3] Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Statistisches Taschenbuch 2008, Tabelle 1.15, Excel-Datei mit 54 kb
[4] Frankfurter Rundschau vom 06.01.2009