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09. Januar 2009, von Michael Schöfer
Degler denkt


Hans-Dieter Degler darf in der Süddeutschen Zeitung regelmäßig öffentlich denken. "Degler denkt", heißt seine Kolumne. Durch den Oeffinger Freidenker bin ich auf seinen neuesten Gedankenblitz aufmerksam geworden. "SPD, ab in die Opposition!", lautet diesmal der Titel. [1]

Was rät Degler den Sozialdemokraten? "Sie müssten, erstens, die Reihen der Partei wieder schließen. (...) Steinmeier und Müntefering müssten, zweitens, den Sympathie- und Mitgliederschwund stoppen oder gar umkehren, was wohl nur gelingen dürfte, wenn sie, drittens, endlich ein nachvollziehbares und glaubwürdiges Verhältnis zur Linkspartei entwickeln." Pah, lauter Allgemeinplätze. Wie wenn das die SPD nicht selbst wüsste. Bloß mit der Realisierung hapert es halt ein wenig - vor allem aufgrund der divergierenden Interessenlage der Parteiflügel. Doch ob die sich so leicht einfangen lassen, ist mehr als fraglich. Wenn es so leicht wäre, hätte es die SPD bestimmt längst umgesetzt.

Einen kapitalen Denkfehler leistet sich Degler allerdings schon in der Einleitung: "'Opposition ist Mist' hat SPD-Chef Franz Müntefering einmal gesagt. Damit wollte er den Machtanspruch seiner Partei verdeutlichen, die nicht ewig Juniorpartner in Berlin sein möchte. Aber aus einer großen Koalition heraus den größeren Partner zu überflügeln, ist in der Geschichte des Landes erst einmal gelungen - 1969." Das sollte vermutlich der SPD aufzeigen, wie schwierig es ist, aus der großen Koalition heraus das Bundeskanzleramt zu erobern. Mit anderen Worten: Ein schlechtes Omen für Kanzlerkandidat Steinmeier. Naja, wenn die Chancen so miserabel sind... ("erst einmal gelungen").

Degler hat freilich nicht genau nachgedacht, weil es nämlich im Bund bislang (vor der jetzt regierenden) überhaupt erst ein einziges Mal eine große Koalition gab, und zwar die von 1966 bis 1969 (die Regierung Kiesinger/Brandt). Deshalb spricht die Aussage entgegen der ursprünglichen Intention Deglers sogar für, und nicht gegen die SPD, weil die Erfolgsquote (Ziel: Ablösung des größeren Koalitionspartners) somit historisch betrachtet 100 Prozent beträgt. Ein einziger Versuch, und der ist gelungen!

Sofern Degler die Landtage in seine Überlegungen mit einbezieht, stimmt die Grundaussage ebenso wenig, denn die Bayern haben es bereits vor gut 54 Jahren vorgemacht:

"Das Kabinett Ehard III bildete vom 18. Dezember 1950 bis zum 14. Dezember 1954 die Staatsregierung des Freistaates Bayern. Nach der Wahl zum 2. Bayerischen Landtag am 26. November 1950, bei welcher die CSU im Landtag nur einen Sitz mehr als die SPD errang, musste der amtierende Ministerpräsident Hans Ehard eine CSU/SPD-Koalitionsregierung bilden. Diese verfügte im Landtag über eine Mehrheit von 127 der 204 Sitze. Nach der Landtagswahl 1954 folgte ihr die Regierung Hoegner II." [2]

"Das Kabinett Hoegner II bildete vom 14. Dezember 1954 bis zum 8. Oktober 1957 (geschäftsführend bis 16. Oktober 1957) die Staatsregierung des Freistaates Bayern. Obwohl bei der Wahl zum 3. Bayerischen Landtag am 28. November 1954 die CSU (83 Sitze) mit deutlichen Abstand vor der SPD (61 Sitze) stärkste Kraft im Landtag wurde, gelang Wilhelm Hoegner die Bildung einer SPD-geführten Viererkoaltion mit den übrigen im Landtag vertretenen Parteien Bayernpartei (BP), Gesamtdeutscher Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (GB/BHE) und FDP. Die Viererkoalition verfügte damit über 121 der 204 Sitze im Landtag." [3]

Außerdem hätte Degler an Berlin denken sollen: "Der Senat Diepgen V war vom 9. Dezember 1999 bis 16. Juni 2001 die Landesregierung des Landes Berlin. CDU und SPD bildeten dabei eine Große Koalition." [4] Auch hier gelang es der SPD, als Juniorpartner den größeren Koalitionspartner abzulösen: "Der Senat Wowereit I war vom 16. Juni 2001 bis 17. Januar 2002 die Landesregierung des Landes Berlin. Er wurde gebildet, nachdem die SPD die Große Koalition in der Folge des Berliner Bankenskandals aufgekündigt hatte, und Klaus Wowereit (SPD) am 16. Juni 2001 mit den Stimmen der SPD, der PDS und der Grünen zum Regierenden Bürgermeister von Berlin gewählt worden war." [5] Klaus Wowereit ist bis heute Regierender Bürgermeister der Bundeshauptstadt. Hans-Dieter Degler ist übrigens gebürtiger Berliner.

Denken wir, stellvertretend für Degler, auch an Mecklenburg-Vorpommern: Ein gewisser Berndt Seite (CDU) war dort vom 8. Dezember 1994 bis 2. November 1998 Ministerpräsident einer großen Koalition. [6] Abgelöst wurde Seite am 3. November 1998 durch seinen Nachfolger Harald Ringstorff (SPD). [7]

Zu guter Letzt: Sollte Degler mit dem Terminus "überflügeln" die Prozentanteile der Parteien gemeint haben, ist das von ihm angeführte Beispiel (das Jahr 1969) schlicht und ergreifend falsch, weil die Union damals bei den Bundestagswahlen beachtliche 46,1 Prozent bekam, die SPD hingegen nur 42,7 Prozent. Von den Prozentanteilen her hat die SPD die CDU 1969 also keineswegs "überflügelt", dennoch stellte sie mit Willy Brandt den Kanzler. Zum Glück, die Zeit war reif für den Machtwechsel.

Alles in allem gab es in Deutschland seit 1945 vier große Koalitionen, in denen der Juniorpartner unmittelbar danach selbst die Regierung übernahm. Rein rechnerisch sind die Chancen von Frank-Walter Steinmeier daher gar nicht so schlecht. Rein rechnerisch. Politisch sieht die Sache ganz anders aus, aber das steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls kann Degler seine Meinung nicht auf die Statistik stützen.

"Man kommt gar nicht mehr nach mit dem Kopf-auf-die-Tischplatte-hauen", schreibt der Oeffinger Freidenker zu Recht. Ein Rat von mir: Vielleicht sollte Hans-Dieter Degler seine Kolumne einfach umbenennen.

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[1] Süddeutsche vom 08.01.2009
[2] Wikipedia, Kabinett Ehard III
[3] Wikipedia, Kabinett Hoegner II
[4] Wikipedia, Senat Diepgen V
[5] Wikipedia, Senat Wowereit I
[6] Wikipedia, Kabinett Seite II
[7] Wikipedia, Kabinett Ringstorff I