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24. Januar 2009, von Michael Schöfer
Wo ist das ganze Geld geblieben?

Dass der Wert von Wertpapieren nur ein Buchwert ist, der seiner Realisierung harrt, bringt jede größere Krise ans Tageslicht. So haben beispielsweise die deutschen Privathaushalte beim Platzen der Internet-Blase angeblich 160 Mrd. Euro verloren. [1] Damals wollte jeder durch Aktienspekulation schnell reich werden. Wenn der Aktienkurs steigt, steigt allerdings bloß der "gefühlte" Reichtum. Zu "richtigem" Reichtum wird das Ganze erst nach dem Verkauf der Wertpapiere, wenn ein anderer Käufer seinerseits bereit ist, für die Wertpapiere Geld auf den Tisch zu legen. Eine Blase (von erwarteten Realisierungsgewinnen) platzt, wenn sich das Verhältnis der Kaufwilligen zu den Verkaufswilligen extrem ungünstig zum Nachteil der zuletzt Genannten entwickelt. Eigentlich eine Binsenweisheit. Genaugenommen ist Geld ebenfalls ein Buchwert, was man in Zeiten der Hyperinflation schmerzhaft zu spüren bekommt. In diesem Fall schmilzt es, egal ob auf dem Bankkonto oder unter der Matratze, wie Eis in der Juli-Sonne. Im Allgemeinen ist Geld jedoch im Vergleich zur Aktie ein viel stabilerer Buchwert.

Heute sieht die Öffentlichkeit vor allem auf die beängstigenden Milliardenverluste der Banken. Es ist zwecklos, das Ausmaß der Finanzlöcher beziffern zu wollen, vermutlich wissen noch nicht einmal die Banken selbst, wie groß der Schaden wirklich ist. Schätzungen zufolge sollen allein bei den deutschen Kreditinstituten riskante Wertpapiere im Wert zwischen 600 Milliarden und einer Billion Euro schlummern. [2] Buchwert, müsste man präziser sagen. (Die fortwährende Korrektur des sinkenden Buchwerts in Form von Abschreibungen ist ein Teil des Problems.) Doch darauf will ich gar nicht hinaus. Ich frage mich vielmehr, wo das ganze Geld wirklich geblieben ist.

Nehmen wir an, ich kaufe die Aktie XY von einem gewissen Herrn B. zu einem Preis von 100 Euro. Der (stabilere) Buchwert Geld wandelt sich dadurch in den (instabileren) Buchwert Aktie, dessen Höhe sich nach dem schwankenden Verhältnis von Angebot und Nachfrage an der Börse richtet. Je nachdem, wie sich dieses Verhältnis entwickelt, können aus meinem Aktien-Buchwert von ursprünglich 100 Euro plötzlich 120 Euro werden, leider aber auch schnell nur noch 80 Euro. Ich habe also einen scheinbaren (gefühlten) Gewinn oder einen scheinbaren (gefühlten) Verlust. Richtig Ernst wird es erst, wenn ich die Aktie loswerden möchte.

Durch die Konzentration auf das Hin und Her der Aktienkurse gerät fast völlig aus dem Blick, dass Herr B., von dem ich die Aktie XY erwarb, immer noch 100 Euro besitzt (sofern er sie zwischenzeitlich nicht für andere Dinge ausgegeben hat). Sogar wenn die von mir erworbene Aktie an der Börse dramatisch an Wert verliert, hat Herr B. nach wie vor "meine" 100 Euro in der Tasche. Die 100 Euro des Herrn B. haben bei normaler Inflationsrate nichts von ihrem Wert verloren, in der Regel bringen sie ihm einen Zinsertrag. Mit anderen Worten: Beim Platzen der Internet-Blase wurden gar nicht 160 Mrd. Euro "verloren", sie wechselten lediglich ihren Besitzer. Was sank, war der Buchwert Aktie, der Buchwert Geld blieb erhalten. Es waren im Gegensatz zu vorher bloß andere, die ihn besaßen.

Zurück zu den Milliardenlöchern der Banken. Ausgangspunkt war vordergründig die Immobilienkrise in den USA. Dort haben, kurz gesagt, Millionen Menschen für den Kauf eines Hauses von ihrer Bank Geld bekommen. Als dann viele dieser Hauskäufer Probleme hatten, den Kredit zurückzuzahlen, kamen wiederum die Banken ins Schlingern. Natürlich besaßen sie Sicherheiten, vor allem die Häuser selbst. Aber da mit einem Mal ziemlich viele Häuser im Angebot waren (und nur wenige ein Haus kaufen wollten oder konnten), sank auch, dem Gesetz von Angebot und Nachfrage folgend, der realisierbare Wert dieser Sicherheiten. Ergebnis: Die Banken bekamen einerseits von ihren Schuldnern kein Geld zurück und saßen andererseits auf drastisch im Wert gefallenen Immobilien herum. Die Wahrheit ist wegen des Handels mit Verbindlichkeiten wesentlich komplexer, als sich hier schildern lässt.

Wie komplex auch immer, jedenfalls frage ich mich: Wo ist das ganze Geld geblieben? Wenn Herr A. mit dem von der Bank S. geliehenen Buchwert Geld ein Haus kauft, hat er es doch irgendwem abgekauft. Lassen wir einmal das Loch in der Bilanz der Bank außer Acht - das Geld für den Hauskauf muss doch irgendwo stecken. Herr A. war nur eine Durchgangsstation. Den riesigen Verlusten, die das gesamte Weltfinanzsystem an den Rand des Abgrunds gebracht haben, müsste logischerweise ein nicht unerhebliches Vermögen gegenüberstehen. Wo steckt es?

Ich ahne es, wenigstens was die Bundesrepublik angeht. "Die Realeinkommen sind im vorigen Jahr in Deutschland wieder gesunken. Damit sind die Reallöhne fünf Jahre in Folge geschrumpft, trotz des Aufschwungs bis Anfang 2008. Eine solch lang anhaltende dürftige Lohnentwicklung gab es in der wiedervereinigten Republik noch nie", meldete die Frankfurter Rundschau vor ein paar Tagen. Einen Tag später war in der gleichen Zeitung zu lesen: "Die Ungleichheit der Vermögensverteilung in Deutschland ist zwischen 2002 und 2007 stark gestiegen. (...) Die unteren 70 Prozent besitzen nur neun Prozent des Gesamtvermögens, dagegen verfügt das reichste Zehntel der Bevölkerung über mehr als 60 Prozent des Gesamtvermögens von 6,6 Billionen Euro."


[Quelle: Frankfurter Rundschau]


[Quelle: Hans Böckler Stiftung]

Vielleicht lässt sich die Finanzkrise, das will ich gerne zugeben, nicht so einfach auf den Punkt bringen. Aber es soll mir auch niemand erzählen, sie habe nichts mit der wachsenden Ungleichheit zu tun.

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[1] Die Welt vom 18.06.2002
[2] Spiegel-Online vom 23.01.2009