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29. Juni 2009, von Michael Schöfer
Anrüchiges Wahlverfahren


Die ganze Welt schaut auf den Iran. Weil die dortige Regierung die Präsidentschaftswahlen gefälscht hat, versucht sich das Volk auf der Straße Gehör zu verschaffen. Am 27. September 2009 finden hierzulande Bundestagswahlen statt. Zwar ist keine Wahlfälschung zu befürchten, doch wird der Wahlgang wahrscheinlich nach einem anrüchigen Wahlverfahren durchgeführt, das bei knappen Mehrheitsverhältnissen für die Regierungsbildung entscheidend sein kann. Das Bundesverfassungsgericht hat das derzeit gültige Bundeswahlgesetz in seinem Urteil vom 03.07.2008 für verfassungswidrig erklärt (Az: 2 BvC 1/07, 2 BvC 7/07). Die Richter sahen die Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl verletzt. Überhangmandate können nämlich nach dem geltenden Wahlrecht zu Verzerrungen des Stimmergebnisses führen. Deshalb hat das Gericht den Gesetzgeber verpflichtet, spätestens bis zum 30.06.2011 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen.

"Hat eine Partei innerhalb eines Bundeslandes mehr Direktmandate, als ihr nach Zweitstimmen Mandate des Landeskontingents zustünden, entstehen Überhangmandate. Diese sind Sitze einer Partei im Bundestag, die über den Anteil, der nach Verhältniswahlrecht nach dem Zweitstimmenanteil vergeben wird, hinausgehen. Durch diese Überhangmandate erhöht sich die Zahl der Abgeordneten im Bundestag.

Der Bundestag setzt sich aus den Wahlkreiskandidaten, die durch die Erststimme (Mehrheitswahlrecht/Direktkandidat) gewählt werden, und den Politikern einer jeweiligen Partei, die durch die Zweitstimme (Verhältniswahlrecht/Listenkandidaten) gewählt werden, zusammen. Durch die Zweitstimme werden die Parteien gewählt und somit die Anzahl der auf jede Partei entfallenden Mandate im Bundestag bestimmt. Die Hälfte der insgesamt 598 zur Verfügung stehenden Mandate wird nun zunächst von den 299 Wahlkreisgewinnern der jeweiligen Parteien besetzt (Erststimmenwahl). Diese Wahlkreisgewinner werden im Bundestag als Direktmandate bezeichnet. Weitere Plätze, die jeder Partei entsprechend ihrem Zweitstimmenanteil zustehen können, werden normalerweise mit den Parteimitgliedern gemäß einer Liste aufgefüllt, die die Partei festlegt. Somit vermindert im Allgemeinen jedes gewonnene Direktmandat einer Partei die Anzahl der ihr verbleibenden Listenmandate.

[Quelle: Wikipedia, CC BY-SA 3.0-Lizenz, Urheber: Drawn by Horst Frank]

Wenn jedoch eine Partei innerhalb eines Bundeslandes über die Erststimmen mehr Wahlkreise gewonnen hat, als ihr nach Zweitstimmen zukommen würden, kommt es zu 'Überhangmandaten'. So gewinnt diese Partei, je nach Anzahl der Überhangmandate, zusätzliche Sitze im Bundestag hinzu. Ein Ausgleich zugunsten der anderen Parteien, der die jeweilige Sitzzahl dem Zweitstimmenverhältnis wieder anpassen würde, findet bei Bundestagswahlen nicht statt, wohl aber bei einigen Landtagswahlen.

Beispiel: Bei der Bundestagswahl 1994 gewann die CDU in Baden-Württemberg alle 37 Wahlkreise und somit 37 Direktmandate. Nach der Berechnung der Sitzverteilung über die Zweitstimmen standen der CDU in Baden-Württemberg jedoch nur 35 Mandate zu: Es entstanden zwei Überhangmandate. Insgesamt gab es 1994 16 Überhangmandate (zwölf für die CDU, vier für die SPD). Die Gesamtzahl der Sitze im Bundestag erhöhte sich entsprechend." [1]



Schwarz-Gelb könnte also unter Umständen nach dem Zweitstimmenergebnis die Regierungsmehrheit verfehlen, aber dennoch mit Hilfe der Überhangmandate eine Parlamentsmehrheit erreichen. In einem Bundestag ohne Überhangmandate sind mindestens 300 Stimmen nötig, um den Bundeskanzler zu wählen (= Kanzlermehrheit). Wenn Union und FDP zusammen nur auf 295 Stimmen kommen, reicht es nicht für die bürgerliche Mehrheit. Sollte die Union allerdings Überhangmandate erhalten, ist vielleicht wider Erwarten eine schwarz-gelbe Mehrheit vorhanden. Der Bürger bekommt dann plötzlich eine Regierung Merkel/Westerwelle, ohne Merkel/Westerwelle gewählt zu haben. Es wäre fatal, wenn das bereits als verfassungswidrig deklarierte Bundeswahlgesetz darüber entscheidet, welche Bundesregierung wir demnächst haben. Die nächste Bundesregierung käme zwar legal ins Amt, weil das Bundesverfassungsgericht die verfassungsgemäße Neuregelung erst bis zum 30.06.2011 verlangt, das Ganze hätte trotzdem ein Geschmäckle. Und zwar ein ziemlich bitteres.

Müssen wir im Herbst - wie die Iraner - auf der Straße für die ordentliche Zählung unserer Wahlstimmen demonstrieren? Bestimmt nicht wegen Wahlbetrug, doch womöglich wegen einer illegitim zustandegekommenen Regierungsmehrheit. Ob dann auch Hunderttausende oder gar Millionen in Berlin protestieren? Wir werden sehen. Die Grünen haben im Bundestag einen Antrag eingebracht, der das Wahlrecht noch vor der nächsten Bundestagswahl ändern soll. Selbstverständlich sperrt sich die Union gegen eine Neuregelung und pocht auf die Koalitionsvereinbarung, nach der es bei Nichteinigung der Koalitionspartner keine abweichende Stimmabgabe geben darf. "Im Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen", heißt es dort. [2] Theoretisch wäre eine Mehrheit für die Änderung des Wahlrechts vorhanden. Doch die SPD wird wohl kaum, insbesondere so kurz vor dem Wahltag, den Koalitionsvertrag brechen, denn für sie ist die Fortsetzung der großen Koalition die einzig realistische Möglichkeit, an der Regierung beteiligt zu bleiben. Der Antrag der Grünen wird daher aller Voraussicht nach abgeschmettert.

Das macht Angela Merkel nicht zu Ahmadinedschad. Aber wie gesagt, es bliebe, falls es wirklich so käme, ein bitterer Nachgeschmack zurück. Wenn es zu Großdemonstrationen kommen sollte, kann sie der iranischen Regierung wenigstens zeigen, wie souverän man in einer Demokratie mit abweichenden Meinungen umgeht. Das Recht der Bürger, ihr Missfallen kundzutun, bleibt zweifellos unangetastet. Handynetze funktionieren weiterhin, im Internet steht die volle Bandbreite zur Verfügung. Fernsehen und Zeitungen berichten ausführlich über die Demos und das Anliegen der Kritiker. Und es wird gewiss auch niemand erschossen.

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[1] Wikipedia, Überhangmandat, Überhangmandate im Bundestagswahlrecht
[2] Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 11.11.2005, Seite 141, PDF-Datei mit 619 kb