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22. August 2009, von Michael Schöfer
Nicht zu begreifen


Fast jeder kennt "Asterix", den weltberühmten Comic von René Goscinny und Albert Uderzo. Die Bewohner des rebellischen gallischen Dorfes unterscheiden sich von den Römern nicht nur durch ihre überragende Militärkraft, die auf den Zauberkünsten des Druiden Miraculix beruht, sondern mindestens genauso durch ihre abweichende Mentalität. "Die spinnen, die Römer!", sagen die Gallier häufig. Nun reagiert jedes Volk auf bestimmte Themen allergisch: Die Deutschen sind politisch überwiegend phlegmatisch - doch wehe, die Regierung ordnet auf den Autobahnen ein generelles Tempolimit an, dann riecht es in Deutschland plötzlich nach Revolte ("freie Fahrt für freie Bürger"). Die vornehmen Engländer fahren selten aus der Haut - höchstens, man verbietet ihnen die traditionelle Fuchsjagd. 2004 sorgte das Verbot sogar für die erste Stürmung des Unterhauses seit 1647. Die Amerikaner wiederum sind gelassene Autofahrer, davon könnten wir Deutschen uns eine Scheibe abschneiden, heißt es. Doch die Amerikaner haben auch ihre wunden Punkte. Beim Recht, Waffen zu tragen und notfalls auch benutzen zu dürfen, sind sie bekanntlich sehr eigen. Die Todesstrafe, Christentum hin oder her, ist ihnen ebenfalls heilig. Alles Übel dieser Welt erwarten sie hingegen von einem staatlichen Gesundheitssystem. Was sich momentan in den USA in Bezug auf Barack Obamas Gesundheitsreform abspielt, ist - wenigstens aus europäischer Sicht - rational nicht zu begreifen.

Die Fakten sind schnell erzählt: "Derzeit haben an die 46 Millionen der 300 Millionen US-Bürger keine Krankenversicherung. In den Vereinigten Staaten gibt es keine allgemeinen gesetzlichen Krankenkassen und auch keine Versicherungspflicht. Die Krankenversicherung ist zumeist an die Unternehmen gekoppelt, in denen die Lohnabhängigen arbeiten. Wer freiberuflich tätig ist oder in einem Betrieb Beschäftigung findet, der keine Krankenversicherung bezahlen will, muss sich privat versichern. Und das ist für eine Mehrheit nicht finanzierbar: Durchschnittlich muss eine Familie 2.500 US-Dollar monatlich aufwenden, um eine private Krankenversicherung zu erhalten. Dieses System, in dem die Pro-Kopf-Belastung in etwa doppelt so hoch ausfällt wie in vergleichbaren Industrieländern, gilt als höchst ineffizient." [1]

Die Gesundheitsausgaben machten in Deutschland im Jahr 2007 10,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, in Österreich waren es 10,1 Prozent, in Schweden 9,1 Prozent und in Großbritannien 8,4 Prozent. Höher als in Deutschland lagen die Gesundheitskosten nur in der Schweiz (11,8 Prozent) und in Frankreich (11 Prozent). Und natürlich in den USA. Die Vereinigten Staaten nehmen mit horrenden 16 Prozent weltweit den ersten Platz ein. [2] Das amerikanische Gesundheitswesen ist also nicht nur ineffizient, sondern auch ausgesprochen teuer.

Barack Obama hat im Wahlkampf versprochen, eine Krankenversicherung für alle einzuführen. Doch die Diskussion darüber droht mittlerweile ins Irrationale abzugleiten. Die Einführung einer staatlichen Krankenversicherung ist vielen Amerikanern gleichbedeutend mit der Einführung des Sozialismus. Wir Europäer reiben uns verwundert die Augen - weder Deutschland noch die Schweiz oder Großbritannien sind sozialistisch. Aber Argumente gelten in der extrem aufgeheizten, von konservativen Kreisen gezielt geschürten Atmosphäre ohnehin wenig. "Die ehemalige republikanische Kandidatin für das Vizepräsidentenamt, Sarah Palin, wirft Obama (…) vor, sein geplantes System führe zur Euthanasie alter und behinderter Menschen. Der Präsident wolle ein staatliches 'Todes-Gremium' schaffen, das darüber entscheiden solle, wer es wert sei, in den Genuss von Gesundheitsfürsorge zu kommen, schrieb Palin. 'Ein solches System ist geradezu böse.'" [3] Hysterie pur. Auf Fotomontagen, die seine Gegner verbreiten, sieht man Obama entweder in Nazi-Uniform oder - mit dem Zusatz "socialism" - als Joker, den Verbrecher in zahlreichen Batman-Filmen. Bei informellen Wahlkreisversammlungen (town hall meetings) werden demokratische Politiker neuerdings aggressiv beschimpft und niedergeschrien.

Die US-Zeitung "Investor's Business Daily" hatte in einem Kommentar behauptet, dass der an der unheilbaren Muskel- und Nervenkrankheit ALS (amyotrophe Lateralsklerose) leidende Physiker Stephen Hawking ("Eine kurze Geschichte der Zeit") in Großbritannien keine Überlebenschance hätte. Der britische National Health Service (NHS) würde nämlich sagen, das Leben dieses genialen Mannes sei wegen seiner körperlichen Behinderung im Wesentlichen wertlos. Nur dumm (für den Autor dieses grotesken Kommentars), dass Hawking Brite ist und nach eigenen Angaben ohne den NHS nicht mehr hier wäre. "Ich habe eine große Menge an qualitativ hochwertiger Behandlung erhalten, ohne die ich nicht überlebt hätte." [4] Kleinlaut gibt die Zeitung jetzt zu, ein schlechtes Beispiel gewählt zu haben und informiert ihre Leser darüber, dass Hawking britischer, nicht amerikanischer Staatsbürger ist, was dem Kommentator offenbar unbekannt war. [5] Hawking sitzt in Cambridge auf dem Lehrstuhl, den einst Isaac Newton und Paul Dirac inne hatten. Blinder Eifer wütet selbst in Redaktionsstuben. Oder ist eine Bildungsreform vielleicht doch notwendiger als die Gesundheitsreform?

"Die spinnen, die Amis!", möchte man angesichts dessen ausrufen. Doch damit macht man es sich zu leicht. Die irrationale Diskussion über Obamas Gesundheitsreform ist bloß ein Symptom, die eigentliche Ursache ist die tiefgreifende Spaltung der Nation, die nur noch Schwarz-Weiß-Denken zulässt und inzwischen sogar einen Gutteil der Medien erfasst hat. Durchschnittlich sieht ein Amerikaner fünf Stunden pro Tag fern (in Deutschland sind es 3,5 Stunden). [6] Neil Postman ("Fernsehen wurde nicht für Idioten erschaffen - es erzeugt sie") hat bereits 1985 auf die schädlichen Folgen des Fernsehens für die politische Kultur aufmerksam gemacht. Postman sprach damals von einer "Infantilisierung der Gesellschaft". Ein Urteil, dem sich Al Gore, unter Bill Clinton Vizepräsident und Friedensnobelpreisträger 2007, anschließt. Das Fernsehen hat die differenzierte Erörterung von politischen Problemen, die in einer aufs Lesen fixierten Gesellschaft noch möglich war, weitgehend zunichte gemacht, lautet sein bitteres Urteil. Wer sieht, auf welch dürftigem Niveau sich die Debatte um die Gesundheitsreform bewegt, muss Postman und Gore leider beipflichten.

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[1] Telepolis vom 10.08.2009
[2] OECD, Health Data 2009 - Frequently Requested Data, Excel-Datei mit 1,7 MB
[3] Süddeutsche vom 09.08.2009
[4] Guardian vom 11.08.2009
[5] IBD
[6] heise-online vom 24.02.2009