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29. September 2009, von Michael Schöfer
Ja, für wen machen wir denn das alles?

(Frank-Walter Steinmeiers etwas andere Rede)

Liebe Genossinnen und Genossen,

die Wählerinnen und Wähler haben uns heute eine ordentliche Abfuhr erteilt, deshalb müssen wir künftig zu unserem großen Bedauern auf alle Regierungsämter und, was noch viel schlimmer ist, auf die damit verbundene Nutzung von Dienstwagen verzichten. Mein tiefstes Mitgefühl gilt daher zunächst Ulla Schmidt. Ich will nicht bestreiten, dass uns das schlechteste Wahlergebnis seit Bestehen der Bundesrepublik etwas nachdenklich gemacht hat. 23 Prozent, liebe Genossinnen und Genossen, das habt ihr wahrlich nicht verdient.

Dabei seid ihr so flexibel gewesen. Ihr könnt euch bestimmt noch daran erinnern: Auf dem Bundesparteitag am 2. Juni 2002 habt ihr mit überwältigender Mehrheit Folgendes beschlossen: "Wir bekennen uns zur besonderen Verantwortung gegenüber den Schwächeren in unserer Gesellschaft. Deswegen wollen wir im Rahmen der Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe keine Absenkung der zukünftigen Leistungen auf Sozialhilfeniveau." Die Betonung, liebe Genossinnen und Genossen, lag damals auf "keine".

Als ich kurz darauf mit meinem Freund Gerhard Schröder, dem "Genosse der Bosse", die "Agenda 2010" entwarf, habt ihr sie pflichtgemäß - ebenfalls mit überwältigender Mehrheit - abgesegnet. Am 1. Juni 2003, also genau ein Jahr nach unserem Wahlparteitag, wart ihr bereits auf Linie. Hartz IV, die Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau, wurde unter dem frenetischen Beifall der Arbeitgeberverbände gebilligt. Wer so anpassungsfähig ist, liebe Genossinnen und Genossen, sollte vom Wahlvolk nicht bestraft, sondern belohnt werden.

Apropos Wahlvolk, den Menschen haben wir die segensreiche Wirkung der Agenda 2010 nie erklären können. Mit einem Wort, das Volk ist begriffsstutzig. Von der "Rente mit 67" waren die Bürgerinnen und Bürger, wie wir am heutigen Abend gesehen haben, genauso wenig zu überzeugen. Und in der Wahlkabine wird dann erbarmungslos nachgetreten. Ist das nicht gemein? Ja, für wen machen wir denn das alles? Doch nicht für Hinz und Kunz. Nein, liebe Genossinnen und Genossen, für uns. Nur für uns! Ach, ich wär' so gerne Vizekanzler geblieben... Und noch lieber Kanzler geworden.

Ich habe in den letzten Wochen auf den Marktplätzen des Landes viel Zuspruch erhalten. Das magere Wahlergebnis spiegelt diesen enormen Zuspruch gar nicht wider. Woran das wohl liegt? Selbstverständlich trage ich als euer Spitzenkandidat für alles die volle Verantwortung, schweren Herzens übernehme ich daher das Amt des Oppositionsführers. Das habe ich übrigens mit Franz Müntefering, dem anderen großen Verlierer dieses Wahlsonntages, in einem Vier-Augen-Gespräch so beschlossen. Kann gut sein, dass ich Ende des Jahres noch viel mehr Verantwortung übernehme und mich sogar zum Parteivorsitzenden wählen lasse. Das, liebe Genossinnen und Genossen, ist für mich die logische Folge aus dem Wahldebakel.

Ich bin übrigens guten Mutes, dass ich die Herausforderung der Zukunft, nämlich die SPD unbeirrt auf Kurs zu halten, glänzend meistern werde. Liebe Genossinnen und Genossen, glaubt mir: Wer den Zweitstimmenanteil der SPD seit 2002 erfolgreich von 18,5 Mio. auf 10 Mio. drücken kann, ist noch zu ganz anderen Taten fähig. Wartet es nur ab, Angela Merkel wird sich noch wundern.

Liebe Genossinnen und Genossen, denkt in dieser schweren Stunde stets an die letzte Zeile unserer Parteihymne: "Mit uns zieht die neue Zeit." Dass die neue Zeit mit uns zieht, ist unstrittig. Jetzt müssen wir bloß noch herausfinden, wohin. Ach, bevor ich es vergesse, Guido Westerwelle hat mir nach der "Elefantenrunde" dankenswerterweise ein kleines Trostpflaster überreicht - seine alten Schuhe aus dem Spaßwahlkampf von vor sieben Jahren. Stellt euch vor, was auf der Schuhsohle steht: "18". Liebe Genossinnen und Genossen, ich ahne langsam, wo das Ganze hinführt. Glückauf!

(Das Protokoll vermerkt: lang anhaltender Jubel im Willy-Brandt-Haus)