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07. November 2009, von Michael Schöfer
Was für ein Stuss


Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass Kruzifixe in öffentlichen Schulen eine Einschränkung des Erziehungsrechts der Eltern und der Religionsfreiheit darstellen, legt bei manchen schonungslos deren geistige Verfassung bloß. So strapaziert etwa ein gewisser Klaus Krämer unseren Intellekt mit völlig absurden Vergleichen: "Man stelle sich Folgendes vor: Auf Intervention einer agnostischen Minderheit in Deutschland wird es höchstrichterlich verboten, Straßenkreuzungen genau so zu nennen. Es wird verfügt, sie künftig nur noch als Straßenquerungen zu bezeichnen. Außerdem dürfen sie nicht mehr rechtwinkelig aufeinander treffen, weil sie Andersgläubige in dieser Form zu sehr an das Kreuz Christi erinnern. (...) Darüber hinaus würden wegen der Verletzung religiöser Gefühle Kreuzspinnen und Kreuzottern ausgerottet, Kreuzschlitzschrauben, Kreuzworträtsel und Kreuzschmerzen abgeschafft. Ganz so weit ist die deutsche und europäische Rechtssprechung gottlob noch nicht, aber viel scheint bis dorthin nicht mehr zu fehlen." [1]

Was für ein Stuss, das ist nämlich keineswegs satirisch gemeint, Krämer scheint tatsächlich an so ein Szenario zu glauben. Hier ist - mit Verlaub - die Grenze zum Schwachsinn eindeutig überschritten, dämlicher kann man eigentlich gar nicht mehr "argumentieren" (es fällt mir schwer, diesen Terminus im vorliegenden Zusammenhang überhaupt noch zu verwenden). Der eklatante Mangel an Argumenten auf Seiten der Kruzifix-Verteidiger ist evident. Wer auf dieses Niveau sinkt, sollte besser schweigen, andernfalls besteht die Gefahr, künftig nicht mehr ernstgenommen zu werden.

Im Kern wird von den Kritikern des Urteils immer wieder auf die abendländische Kultur hingewiesen, die sich angeblich aus dem Christentum speise. Und abendländische Kultur wird in diesem Kontext stets mit demokratischer Kultur gleichgesetzt. Dass die Kirche die Demokratie, den Menschenrechtsgedanken und die Wissenschaft aktiv bekämpft hat, wird allerdings meist unterschlagen. In Wahrheit stand die Religion der Demokratie jahrtausendelang im Weg. Alles, worauf wir heute in Europa zu Recht stolz sind (Meinungs-, Presse-, Religionsfreiheit etc.), musste gegen den Klerus erkämpft werden. So hat etwa Papst Leo XIII. (Pontifikat von 1878-1903) in einer Reihe von Enzykliken "scharfe Kritik am Menschenrechtsgedanken sowie an dem individualistischen Freiheitsstreben des Liberalismus geäußert und an die christlichen Bürgerpflichten erinnert, da für die Katholiken der Gehorsam gegenüber der Kirche Vorrang vor allen anderen Verpflichtungen besitze." [2] Gregor XVI. (Pontifikat 1831-1846) bezeichnete den Freiheitsgedanken als "Wahnsinn", "höchste Unverschämtheit" und "seuchenartigen Irrtum". Nach Ansicht von Pius IX. (Pontifikat 1846-1878) tragen die bürgerlichen Freiheiten dazu bei, "die Sitten und Herzen der Völker zu verderben" und "die Pest des Indifferentismus zu verbreiten". [3]

Viel hat sich daran nicht geändert. Erst kürzlich verglich der Kölner Erzbischof Joachim Meisner die Auffassungen des britischen Evolutionsbiologen Richard Dawkins mit dem Weltbild der Nationalsozialisten und bezeichnete Dawkins als "Vorreiter der neuen Gottlosen". [4] Toleranz und Kirche sind halt wie Feuer und Wasser - das passt einfach nicht zusammen.

Der Staat hat weltanschaulich neutral zu sein, dies gilt insbesondere in den Schulen. Und in Klassenräumen aufgehängte Kruzifixe sind eben mit weltanschaulicher Neutralität nicht zu vereinen. Insofern kann man dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof nur beipflichten. Man stelle sich das Geschrei vor, wenn in den Schulen Plakate der "AtheistCampaign" aufgehängt würden: "Es gibt wahrscheinlich keinen Gott. Hört auf, euch Sorgen zu machen und freut euch des Lebens."

Dann kämen die christlichen Fundamentalisten bestimmt aus allen Löchern gekrochen. Und wer, wie Klaus Krämer, als Konsequenz des Urteils die befürchtete "Radikalisierung der italienischen Katholiken" fast schon entschuldigt, hat meiner Auffassung nach den Grundgedanken der Demokratie nicht begriffen. Und ihre kulturellen Wurzeln, woher sie wirklich kommt, noch weniger.

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[1] Deutsche Welle vom 06.11.2009
[2] Gerhard Besier, Kirche, Politik und Gesellschaft im 19. Jahrhundert
[3] Wolfgang Luttenberger, Reaktion des Christentums bzw. Islams auf die Menschenrechtsidee, Word-Datei mit 60 kb
[4] Kölner Stadt-Anzeiger vom 01.11.2009