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01. Dezember 2009, von Michael Schöfer
Das Schweizer Minarett-Referendum


Wenn sich, wie in der basisdemokratischen Schweiz, bei einer Wahlbeteiligung von 53,4 Prozent der Stimmberechtigten eine klare Mehrheit von 57,5 Prozent für das Verbot von Minaretten ausspricht, muss man das zunächst einmal akzeptieren. So funktioniert eben Demokratie: Mehrheiten entscheiden. Folgender Wortlaut wird jetzt in die Schweizer Bundesverfassung aufgenommen: "Der Bau von Minaretten ist verboten." Aber gleichzeitig ist der Ausgang des Referendums ein Zeichen, dass in Europa bei der Integration von Minderheiten offenbar manches falsch läuft.

Wenn in islamischen Ländern der Bau von christlichen Kirchen verboten ist, bezeichnen wir das zu Recht als Diskriminierung. Wenn in der Schweiz Minarette verboten werden, müssen wir das jedoch ebenfalls als Diskriminierung einstufen (die Unterscheidung zwischen dem Verbot von Minaretten und dem weiterhin erlaubten Bau von Moscheen ist skurril). Sich am schlechten Beispiel anderer zu orientieren, kann keine adäquate Lösung sein, denn dann würde man sich schnell auf dem niedrigsten Niveau wiederfinden. Kein Zweifel: Das Schweizer Abstimmungsergebnis widerspricht der Religionsfreiheit, der Gleichheit vor dem Gesetz und ist zutiefst intolerant. Die Zeiten, in denen man für bestimmte Religionsgemeinschaften Sondergesetze erlässt, sollten eigentlich der Vergangenheit angehören. Gerade wir Deutschen wissen, wo das enden kann.


Das umstrittene Plakat der Plakat der Minarett-Gegner

Allerdings fällt ein Volksentscheid nicht vom Himmel. Vom Terror der Islamisten fühlen sich viele Menschen bedroht. Noch mehr Unbehagen verursacht das Entstehen von Parallelgesellschaften. Auch die, die sich jetzt über das Schweizer Referendum echauffieren, schicken ihre Kinder lieber auf Schulen, in denen der Ausländeranteil gering ist. Und freiwillig nach Berlin-Neukölln (Ausländeranteil 34,9 Prozent) umziehen, werden die meisten wahrscheinlich ebenfalls ablehnen. Warum wohl? Etwa weil sie insgeheim, ohne es offen einzugestehen, fremdenfeindlich sind? Resultieren deren Bedenken aus haltlosen Vorurteilen oder gibt es dafür nachvollziehbare Gründe? Wie auch immer, es ist jedenfalls nicht besonders angenehm, in sogenannten Problemgebieten zu leben und dort seine Kinder aufwachsen zu sehen. Fakt ist: Diejenigen, die es sich leisten können, ziehen fort. Die Realität zu ignorieren wäre töricht.

Dass solche Ängste jetzt ausgerechnet in der beschaulichen Schweiz Wirkung zeigen, ist verwunderlich. Hat doch die Alpenrepublik im Vergleich zu anderen Ländern wenig Probleme. 2008 waren dort 22,9 Prozent der insgesamt 7,7 Mio. Einwohner Ausländer. Auf den ersten Blick sind das recht viel. Von den 1,76 Mio. Ausländern kommen jedoch 251.527 (14,26 %) aus Deutschland, 295.066 (16,73 %) aus Italien und 205.545 (11,65 %) aus Portugal, mithin aus Ländern mit ähnlichem kulturellen Hintergrund. Lediglich 74.147 (4,20 %) der Ausländer sind Türken. Die größte Ausländergruppe stammt aus dem ehemaligen Jugoslawien (Serbien, Montenegro, Kroatien, Bosnien, Mazedonien), zusammengenommen sind das 327.582 Einwanderer - ganze 4,25 Prozent der Bevölkerung. [1] Türken und Zuwanderer aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens stellen in der Schweiz auch das Gros der Muslime, bei der Volkszählung im Jahr 2000 registrierten die Behörden knapp 311.000, das waren 18,3 Prozent der Ausländer und 4,3 Prozent der Bevölkerung (vgl. Tabelle).

Wohnbevölkerung der Schweiz nach Religionen (Stand: 2000) [2]

Absolut Total Schweizer Ausländer
Wohnbevölkerung 7.288.010 100,0 % 100,0 % 100,0 %
Protestantisch 1) 2.569.124 35,3 % 42,7 % 6,3 %
Römisch-katholisch 3.047.887 41,8 % 41,2 % 44,4 %
Christkatholisch 13.312 0,2 % 0,2 % 0,0 %
Christlich-orthodox 131.851 1,8 % 0,5 % 6,9 %
Andere christliche Gemeinschaften 14.385 0,2 % 0,2 % 0,3 %
Jüdische Glaubensgemeinschaft 17.914 0,2 % 0,2 % 0,3 %
Islamische Gemeinschaften 310.807 4,3 % 0,6 % 18,3 %
Andere Kirchen und Religionsgemeinschaften 57.126 0,8 % 0,3 % 2,5 %
Keine Zugehörigkeit 809.838 11,1 % 10,8 % 12,3 %
Ohne Angabe 315.766 4,3 % 3,2 % 8,7 %
1) Inkl. Neuapostolische Kirchen und Zeugen Jehovas

Aktuelle Angaben sprechen von 400.000 Muslimen - das sind 5,2 Prozent der Bevölkerung. Mit anderen Worten: Von ihrer Anzahl her dürften Muslime der Schweiz wenig Probleme bereiten. Objektiv betrachtet ist der Ausgang des Referendums daher unverständlich, vermutlich wurden deshalb alle vom Ergebnis überrascht. Doch bei jeder Abstimmung spielen natürlich auch subjektive Motive eine Rolle.

Ob das Referendum nur die erstbeste Gelegenheit war, es dem politischen Establishment einmal so richtig zu zeigen, bleibt offen. "Viele Bürger sind verunsichert: Finanzkrise, Bankenkrise, Streit mit Libyens Gadhafi um inhaftierte Schweizer Geschäftsleute, sogar das Bankgeheimnis wurde teilweise gekippt. Die Schweizer haben bei ihrer Abstimmung viel Ärger und Unbehagen auf eine vermeintliche muslimische Bedrohung projiziert", erläutert der Islamkenner Reinhard Baumgarten. [3] Mag sein. Aber alle Kommentare, warum das Referendum wider Erwarten anders ausging, sind mit Vorsicht zu genießen. Schnellschüsse sind immer problematisch und treffen häufig nicht den Kern der Sache.



Rechtspopulisten fordern jetzt auch andernorts Volksabstimmungen über Minarette. Setzen sich nun die Rattenfänger durch, die den Frust der Menschen erfolgreich auf Sündenböcke umlenken? Diese Erklärung greift zu kurz, denn die Probleme mit der Integration von Migranten aus anderen Kulturkreisen sind ja existent und nach wie vor ungelöst. Es gibt zwar neuerdings gute Ansätze, doch weiß keiner, ob sie am Ende auch Früchte tragen. Dramatisierung ist momentan genauso wenig opportun wie Bagatellisierung. Integration ist ein komplexes Thema. Wer glaubt, er bräuchte nur an einem bestimmten Rädchen ein bisschen zu drehen und schon werde alles gut, ist blauäugig. Die Mischung macht's: Selbstbehauptung in Bezug auf die eigenen Wertvorstellungen und aufrichtige Dialogbereitschaft. Vor allem: Hier passiert nichts von heute auf morgen.

Das Verbot, Minarette zu errichten, löst nichts, denn die Muslime werden ja nicht kurzerhand wieder verschwinden. Eine pluralistische Gesellschaft kann, ja muss Minarette ertragen. Unnachgiebig reagieren müssen wir dagegen, wenn unsere säkularen Werte (Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Gleichheit von Mann und Frau, Religionsfreiheit, Trennung von Staat und Kirche, Meinungs- und Pressefreiheit etc.) tangiert sind. Was das angeht dürfen wir nicht einen Millimeter zurückweichen. Leider machen wir in dieser Beziehung viel zu viel Konzessionen, insbesondere wenn es ums Geschäft geht. Der Rendite wegen drücken wir nämlich gerne beide Augen zu. Überspitzt formuliert: Ausbeutung mag ja schlimm sein - aber nicht, wenn sie profitabel ist. Auch die Schweiz muss sich vorhalten lassen, gelegentlich vom Pfad der Tugend abzuweichen. Doch die Anwendung von Doppelstandards macht unglaubwürdig. Wer von Migranten die Anerkennung westlicher Grundwerte einfordert, darf sie nicht selbst missachten.

Obgleich mir der Ausgang des Referendums missfällt, bin ich nach wie vor ein Anhänger von mehr direkter Demokratie. Ob Politiker wirklich die besseren Entscheidungen treffen, ist fraglich. Demokratie heißt Volksherrschaft, nicht die Bevormundung des Volkes durch eine abgehobene Politikerkaste, die angeblich alles besser weiß. Das Volk trägt dann für seine Entscheidungen unmittelbar die Verantwortung und kann niemand anderen für Fehlentscheidungen beschimpfen. Die Behauptung, das Volk sei nicht reif für die direkte Demokratie, ist eine billige Ausrede. Die direkte Demokratie, in der Schweiz seit Jahrhunderten praktiziert [4], hat schließlich mitnichten zum Untergang der Alpenrepublik geführt.

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[1] Schweizerische Eidgenossenschaft, Bundesamt für Statistik, Ausländische Wohnbevölkerung nach detaillierter Staatsangehörigkeit und Geschlecht, Excel-Datei mit 318 kb
[2] Schweizerische Eidgenossenschaft, Bundesamt für Statistik, Wohnbevölkerung nach Religionen, Excel-Datei mit 18 kb
[3] SWR vom 30.11.2009
[4] vgl. Wikipedia, Liste eidgenössischer Volksabstimmungen von 1848 bis 2009