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30. Mai 2010, von Michael Schöfer
Sparen bis zum Umfallen?


Wenn die vielbeschworene schwäbische Hausfrau von der Schuldenlast fast erdrückt wird, ist Sparen eine geeignete Strategie, um sich aus der drohenden Schuldenfalle zu befreien. Sparen hat schließlich keinerlei Auswirkungen auf ihr Einkommen, sondern lediglich auf ihre Ausgaben, da ihre Einkünfte nicht von ihren Ausgaben abhängen.

Bei einer Volkswirtschaft ist das natürlich anders, hier gibt es zwischen Einkommen und Ausgaben eine Wechselwirkung: die Kaufkraft. Müssen die Konsumenten ihr Einkaufsverhalten ändern und geben weniger Geld aus, nimmt letztlich auch der Staat weniger Geld in Form von Steuern ein. Defizite können daher durch konsequentes Sparen sogar noch wachsen (der schwäbischen Hausfrau erscheint das als paradox). Wenn der Staat spart, sollte er folglich den negativen Einfluss auf die Kaufkraft so gering wie möglich halten.

Ob Europa hier richtig handelt, ist mehr als fraglich, denn die bislang bekannt gewordenen Sparpakete schlagen überwiegend auf die Kaufkraft durch, betroffen sind nämlich vor allem Arbeitnehmer und Rentner. Die Staaten der Euro-Zone und Großbritannien werden in den nächsten Jahren insgesamt 400 Mrd. Euro weniger ausgeben, schlimme Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum sind deshalb vorprogrammiert. [1]

In Griechenland ist zum Beispiel die Kaufkraft im letzten Jahr bereits um zwei Prozent eingebrochen, in diesem Jahr rechnet man mit einem weiteren Rückgang um 5,7 Prozent. [2] Handeln alle Staaten in Europa wie die Griechen, hat das fatale Auswirkungen auf die Wirtschaft. Vor diesem Hintergrund sind auch die Ängste vor einer Inflation aller Voraussicht nach unbegründet, es droht vielmehr eine Deflation (sinkende Löhne, sinkende Nachfrage, sinkende Preise, sinkende Gewinne, dauerhafte Rezession), weil Preiserhöhungen bei stark gesunkener Kaufkraft an den Märkten kaum zu realisieren sind.

Eine Alternative zur Austeritätspolitik wäre das Generieren von Wachstum. Klassisches "deficit spending", wie es seinerzeit der britische Ökonom John Maynard Keynes empfahl, ist aber angesichts der bestehenden Schuldenberge politisch nicht durchsetzbar. Es ist ja überall das erklärte Ziel, Defizite jetzt unbedingt zu reduzieren. Bleibt noch das Wachstum durch Innovation und das Erschließen neuer Märkte. Ob die schwarz-gelbe Regierungskoalition hier eine kluge Politik betreibt, ist äußerst zweifelhaft. Einerseits will sie beispielsweise an der anachronistischen Kernkraft festhalten, andererseits hat sie die Reduzierung von Subventionen im Energiebereich ins Auge gefasst. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble: "Im Energiebereich zum Beispiel finden Sie jede Menge Subventionen auf die unterschiedlichsten Energiearten. Die abzubauen, hat doch nichts mit dem Quälen der Bürger zu tun." [3]

Falls Schäubles Spardiktat die regenerativen Energiearten träfe, wäre das absolut kontraproduktiv, denn hier liegt das Zukunftspotential für künftige Exporterfolge. Den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft aufzuschieben, würde sich also bitter rächen. Es nützt nichts, die Volkswirtschaft von einer Sackgasse (Staatsverschuldung) in die nächste (technologische Rückständigkeit) zu fahren. Vermutlich hat die Bundesregierung wenig aus ihren früheren Fehlern gelernt, um Einzelheiten zu erfahren müssen wir allerdings erst die Haushaltsklausur Anfang Juni abwarten.

Kommen wir zum Unwort "Umverteilung". Volkswirtschaftlich betrachtet hat zumindest Deutschland keine Defizite zu beklagen, wir haben nämlich seit Einführung des Euro am 01.01.1999 bis zum ersten Quartal 2010 einen Leistungsbilanzüberschuss von insgesamt 889,35 Mrd. Euro erwirtschaftet. [4] Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger: "Das ist der Betrag, der übrig bleibt, wenn man sämtliche Einnahmen eines Landes addiert und davon sämtliche Ausgaben abzieht. Abgesehen von China gab es in den vergangenen Jahren kein Land, das so hohe Leistungsbilanzüberschüsse erzielt hat wie Deutschland - sprich: kein Land, das so viel Geld aus dem Ausland eingenommen und so wenig dort ausgegeben hat. Und wer viel einnimmt und wenig ausgibt, der lebt unter seinen Verhältnissen." Resümee von Bofinger: Insgesamt hat die deutsche Wirtschaft "in den vergangenen zehn Jahren keineswegs über ihren Verhältnissen gelebt. Sondern unter ihren Verhältnissen. Und zwar massiv." [5]

Dieser volkswirtschaftliche Überschuss kam freilich beim Gros der Arbeitnehmer gar nicht an, deren Reallöhne sinken nämlich seit langem. Auch die öffentlichen Haushalte haben daran durch andauernde Steuersenkungen für Unternehmen und Besserverdienende keinen adäquaten Anteil gehabt. Und so hat sich, wenig verwunderlich, die Vermögensungleichverteilung weiter verschärft: Das reichste Prozent verfügte 2007 über 23 Prozent des Gesamtvermögens, die obersten 5 Prozent über 46 Prozent und das reichste Zehntel über 61,1 Prozent. Demgegenüber besitzen die unteren 70 Prozent bloß 8,8 Prozent des Gesamtvermögens, 27 Prozent haben gar kein Vermögen oder waren sogar verschuldet. [6]


[Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung]

Erwachsene Bevölkerung nach Zehnteln (Dezilen) 2007
Anteile am Gesamtvermögen in Prozent
1. Dezil -1,6
2. Dezil 0,0
3. Dezil 0,0
4. Dezil 0,4
5. Dezil 1,2
6. Dezil 2,8
7. Dezil 6,0
8. Dezil 11,1
9. Dezil 19,0
10. Dezil 61,1

Selbst wenn dadurch die üblichen Beißreflexe ausgelöst werden: Wir müssen uns über eine Umverteilung Gedanken machen. Je mehr Geld von oben nach unten durchsickert, desto mehr kommt wieder bei der Wirtschaft in Form von Kaufkraft an. Die bislang praktizierte Umverteilung von unten nach oben, exemplarisch seien hier die Hartz-Gesetze angeführt, haben, wie man jetzt sieht, die wirtschaftliche Lage verschärft (obgleich uns die Regierungspropaganda immer das genaue Gegenteil vermitteln will). Wäre der Binnenmarkt stärker gewesen, hätte uns der Rückgang beim Export im vergangenen Jahr nicht so hart getroffen (Bruttoinlandsprodukt -4,9 Prozent).

Sparen bis zum Umfallen ist keine Lösung (ein bisschen sparen an der richtigen Stelle dagegen schon). Was wir in der derzeitigen Lage bräuchten, wären Investitionen in die Zukunft und eine gerechtere Verteilung im Inland (was am Ende aufgrund höherer Importe auch unseren Handelspartnern in Europa nützen würde). Leider sieht es nicht danach aus, als habe die Regierung die Absicht, in diese Richtung zu gehen. Teilweise scheint sie nicht einmal das Problem zu begreifen.

So hat etwa die Reaktion auf die Kritik der französischen Finanzministerin Christine Lagarde an den deutschen Exportüberschüssen gezeigt, dass die Regierung kein Gespür für die Interessen unserer Partner besitzt. "Können diejenigen mit Handelsüberschüssen nicht ein klein wenig was tun?", fragte Lagarde. [7] "Eine Verbesserung beim heimischen [d.h. deutschen] Konsum könnte unseren Exporten nach Deutschland, unserem wichtigsten Handelspartner, helfen." [8] Die "Exportwirtschaft anzuhalten, dass sie unattraktive Güter herstellt, würde dem Wettbewerbsgedanken widersprechen", antwortete die deutsche Bundesregierung. [9] Doch das hatte Lagarde gar nicht verlangt, sondern eine Stärkung des deutschen Binnenmarkts, um dadurch die deutschen Importe zu erhöhen und so den Handelsbilanzüberschuss mit Frankreich abzubauen, aber keineswegs gefordert, die hiesige Wettbewerbsfähigkeit zurückzufahren.

Ein durchaus berechtigtes Anliegen, die Korrektur der Ungleichgewichte in Europa, wird mit einer verqueren Begründung zurückgewiesen. Diese Ignoranz ist zutiefst irritierend. Doch es kommt noch schlimmer: "Deutschland wegen seiner Exportstärke Vorwürfe zu machen, nannte Brüderle 'nicht zielführend.' Er könne wettbewerbsschwächere Länder in Europa nur ermuntern, es Deutschland nachzutun", setzte unser Bundeswirtschaftsminister einen obendrauf. [10] Genauso irritierend, weil vollkommen abwegig.

Deutschland exportiert 63 Prozent seiner Waren in die Mitgliedstaaten der Europäischen Union. [11] Sehen wir uns einmal die deutsche Handelsbilanz mit den übrigen EU-Mitgliedstaaten an:


Ausfuhr nach
(in Mrd. Euro)
Einfuhr von
(in Mrd. Euro)
Handelsbilanz
(in Mrd. Euro)
Frankreich
81,9
54,6
+27,3
Niederlande 54,1 58,0 -3,9
Großbritannien 53,2 33,2 +20,0
Italien 51,1 39,7 +11,4
Österreich 48,2 29,1 +19,1
Belgien 42,2 29,2 +13,0
Polen 31,6 22,8 +8,8
Spanien 31,3 19,3 +12,0
Tschechische Republik 22,6 24,9 -2,3
Schweden 15,9 10,4 +5,5
Dänemark 13,3 10,4 +2,9
Ungarn 11,9 14,1 -2,2
Finnland 7,1 5,3 +1,8
Slowakei 6,7 7,4 -0,7
Rumänien 6,7 5,3 +1,4
Griechenland 6,7 1,9 +4,8
Portugal 6,2 3,6 +2,6
Luxemburg 4,7 2,8 +1,9
Irland 3,7 13,8 -10,1
Slowenien 3,1 3,1 0
Bulgarien 1,9 1,4 +0,5
Litauen 1,5 1,2 +0,3
Estland 1,0 0,4 +0,6
Lettland 0,9 0,4 +0,5
Zypern 0,6 0,2 +0,4
Malta 0,3 0,3 0
insgesamt 508,4 392,8 115,6
[Quelle: Statistisches Bundesamt, Rangfolge der Handelspartner im Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland, PDF-Datei mit 28 kb, Beträge jeweils auf- bzw. abgerundet]

Wie wir sehen, hat Deutschland mit seinen Handelspartnern innerhalb der EU einen Handelsbilanzüberschuss von rund 116 Mrd. Euro erzielt. Wenn diese, wie von Rainer Brüderle empfohlen, dem Vorbild Deutschland nacheifern, also demnächst auch Überschüsse erwirtschaften, können wir mit ihnen nicht ebenfalls Überschüsse haben. Die Welthandelsbilanz ist stets ausgeglichen, sie hat die Größe null. Handelsbilanzüberschüsse bestimmter Staaten stehen daher zwangsläufig Handelsbilanzdefizite anderer Staaten gegenüber, die Überschüsse des einen sind logischerweise die Defizite des anderen. Die Auswirkungen von Brüderles Vorschlag auf die deutsche Exportindustrie wären verheerend.

Das klappt allenfalls, wenn die anderen EU-Staaten ihre Exporte in Länder jenseits der EU drastisch ausweiten und auf diese Weise ihr Defizit mit uns kompensieren. Doch das ist extrem unwahrscheinlich, wohin sollen die denn liefern? Die EU verzeichnete zuletzt im Handel mit den USA einen Überschuss von 44,5 Mrd. Euro. [12] Glaubt Brüderle wirklich, die ohnehin mit einer chronisch defizitären Handelsbilanz geschlagenen Amerikaner würden noch höhere Defizite akzeptieren oder gar ökonomisch aushalten können? Und dass die Mitgliedstaaten der EU ihr Heil im Handel mit China finden könnten, ist ebenso unrealistisch. Sogar für das wettbewerbsfähige Deutschland reichte es hier bloß zu einem Handelsbilanzdefizit in Höhe von 18,9 Mrd. Euro (2009). Mit anderen Worten: Das, was unser Bundeswirtschaftsminister empfiehlt, ist völlig wirklichkeitsfremd.

Angesichts dessen kein Wunder: "Nur noch 20 Prozent stehen hinter der Arbeit der Bundesregierung. (…) Der Anteil der Unzufriedenen schnellte auf 78 Prozent hoch. (…) 58 Prozent wünschen sich die große Koalition zurück." [13] Doch wir haben die Regierung, die wir verdienen. Und bedauerlicherweise müssen wir es mit ihr noch dreieinhalb Jahre aushalten - es sei denn, Angela Merkel oder Guido Westerwelle werfen vorzeitig das Handtuch. Die schlechten Werte für Schwarz-Gelb sind zwar verständlich, aber irgendwer muss sie am 27. September 2009 gewählt haben. Komisch, wenn man nachfragt will es keiner gewesen sein.

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[1] Handelsblatt vom 25.05.2010
[2] WirtschaftsBlatt vom 21.05.2010
[3] Bild am Sonntag vom 29.05.2010
[4] Deutsche Bundesbank, Saldo der Leistungsbilanz
[5] Frankfurter Rundschau vom 28.05.2010
[6] Bundeszentrale für politische Bildung, Vermögensverteilung, PDF-Datei mit 123 kb
[7] Handelsblatt vom 15.03.2010
[8] Süddeutsche vom 17.03.2010
[9] RP-ONLINE vom 15.03.2010
[10] manager magazin vom 23.03.2010
[11] Statistisches Bundesamt
[12] Eurostat, Pressemitteilung 42/2010 vom 18.03.2010, PDF-Datei mit 49 kb
[13] RP-ONLINE vom 29.05.2010