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05. September 2010, von Michael Schöfer
Das Grundgesetz schützt auch Thilo Sarrazin


Man muss kein Anhänger der kruden Thesen Thilo Sarrazins sein, um bei seiner Entlassung als Bundesbanker und seinem Ausschluss aus der SPD politische Bauchschmerzen zu bekommen. Dass ich seine Ansichten keinesfalls teile, habe ich ja bereits mehrfach deutlich gemacht und bin wohl, was das angeht, völlig unverdächtig. [1] Es geht mir vielmehr um Grundfragen der Meinungsfreiheit und um das Verfassungsverständnis.

Vor langer Zeit habe ich mich auch gegen Berufsverbote für Lokführer oder Briefträger ausgesprochen, die damals der DKP angehörten. Solche Berufsverbote waren nämlich hierzulande seit Anfang der siebziger Jahre üblich (Stichwort: Radikalenerlass). Für die Jüngeren unter uns: Es gab in Deutschland, zu dieser Zeit noch durch die Zonengrenze ordentlich in zwei antagonistische Teile getrennt, eine Zeit, in der Briefträger der "Deutschen Bundespost" Beamte waren. Hoheitliche Aufgabe, extrem wichtig! Für die Regierenden lag klar auf der Hand, dass Briefträger eine tragende Säule der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (FDGO) seien. Die FDGO - ein Begriff, der mittlerweile etwas aus der Mode gekommen ist - war seinerzeit so kostbar, dass Beamte keinesfalls in der DKP sein durften. Kommunisten konnten nicht Briefträger werden, irrtümlich eingestellte wurden wieder aus dem Dienst entfernt, schließlich hätten sie, überspitzt formuliert, durch Sabotage leicht das ganze Staatsgefüge zum Einsturz bringen können. Heute kräht kein Hahn mehr danach.

Die Folgen waren fatal: "Die Gründe, die Bewerber für den öffentlichen Dienst in den Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit brachten, waren vielfältig. In der Praxis waren vom Radikalenerlass vor allem Beamte, Beamtenanwärter, Angestellte und Arbeiter des öffentlichen Dienstes aus dem linken Spektrum betroffen. Es wurde nicht nur Linksextremisten und Kommunisten die Einstellung verweigert, sondern auch Personen, die anderen oder keiner Partei angehörten. Teilweise war es ausreichend, in einer Organisation aktiv zu sein, in der Kommunisten eine führende Rolle spielten." [2] Als Verfassungsfeinde verdächtigt wurden jene, die schon einmal Kontakt zu radikalen politischen Gruppen gehabt hatten. Auch zu solchen, die gar nicht verboten waren, sondern lediglich Kritik am Staat übten. "Von etwa 1,4 Millionen Überprüften wird rund 1.100 Personen der Eintritt in den Öffentlichen Dienst verwehrt." [3] "In unionsregierten Ländern mussten sogar SPD-Mitglieder mit dem Ausschluss aus dem öffentlichen Dienst rechnen, sofern sie der 'Deutschen Friedens-Union', der 'Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes' oder ähnlichen Organisationen angehörten, die von den Behörden als Hilfsorganisationen der DKP eingestuft wurden." [4]

Ich vertrat hingegen die Ansicht, jedem stehe, solange er seinen beruflichen Pflichten nachkommt, selbstverständlich das Recht auf Meinungsfreiheit zu. Dies gilt m.E. heute auch für Thilo Sarrazin. Die durch die Verfassung geschützte Meinungsfreiheit gibt jedem das Recht, sogar Unsinn zu verbreiten. Die Grenzen werden lediglich vom Strafrecht gezogen. Natürlich fallen Beleidigungen, der Aufruf zu Straftaten oder etwa Volksverhetzung nicht unter die Meinungsfreiheit. Und das ist gut so. Aber ist die so provokante wie wissenschaftlich unhaltbare These Sarrazins, muslimische Migranten hätten genetisch bedingt eine niedrigere Intelligenz, strafbar? Sie ist dumm und verletzend, doch einen Verstoß gegen die Meinungsfreiheit sehe ich darin nicht. Wie gesagt, das Grundgesetz schützt selbst die Verbreitung kompletten Unsinns.

Insofern halte ich es für bedenklich, wenn Thilo Sarrazin jetzt als Bundesbankvorstand entlassen und aus der SPD ausgeschlossen werden soll. Würde man dieses Vorgehen billigen, fiele das womöglich morgen auf uns selbst zurück. Nehmen Sie einmal - nur als Beispiel - meine eigene Situation: Ich arbeite im "schwarzen" Baden-Württemberg als Landesbediensteter und habe mir von jeher den Luxus geleistet, eine abweichende Meinung zu vertreten. Keine undemokratische, aber jedenfalls nicht die Meinung der CDU, obgleich die bei uns im Ländle seit 1953 ununterbrochen an der Macht ist. Das ist schließlich mein Recht. Ich schulde als Landesbediensteter der Regierung berufliche Loyalität, d.h. ich muss deren Anweisungen - solang sie rechtmäßig zustande kommen - Folge leisten. Aber schulde ich der Regierungspartei CDU politische Loyalität? Keineswegs, denn hier greift mein Recht als Staatsbürger. Ein kleiner, aber feiner Unterschied. Dass man mich nicht aus dem Beschäftigungsverhältnis als Landesbediensteter entlassen darf, obwohl ich mich häufig gegen die Politik der Regierungspartei wende, ist den demokratischen Prinzipien zu verdanken: Meinungsfreiheit, Pluralismus und - als Gewerkschafter - die Koalitionsfreiheit.

Mit anderen Worten: Es gehört zum Wesen der Demokratie, gegen die Regierung sein zu dürfen. Selbst als Beschäftigter des öffentlichen Dienstes. Dazu gehört auch das Recht, sich gegen die Mehrheitsmeinung stellen zu dürfen. Mehrheitsmeinungen brauchen naturgemäß keinen Schutz, weil deren Vertreter kaum auf Widerstand treffen dürften. Nicht missverstehen: Selbstverständlich werden sie formal von der Verfassung ebenso geschützt. Unser Grundgesetz schützt demzufolge im Wesentlichen die Minderheitsmeinung, und zwar vor dem Unmut und den Angriffen der Mehrheit. Das gilt, unabhängig davon, ob Sarrazin nun eine Mehrheits- oder Minderheitsmeinung vertritt, prinzipiell auch für ihn. "Falls Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen." (George Orwell)

Ich bin deshalb der Ansicht, dass die Entlassung Sarrazins falsch und verfassungswidrig ist. Der Grad der Entrüstung über seine provokanten Thesen darf doch, solange diese nicht strafbar sind, kein Maßstab für dessen Verbleib auf dem Arbeitsplatz sein. Wäre das so, müssten wir uns im Grunde alle an der Meinung der Stammtische ausrichten. Das entspräche aber weder dem Geist der Demokratie noch dem der Verfassung. Ob Sarrazins Ansichten wirklich von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt werden oder nicht, sei dahingestellt und ist in diesem Zusammenhang vollkommen irrelevant. Grundrechte gelten für alle. Ein Prinzip, das ich auch in anderen Fällen hochhalte. Es wird extrem gefährlich, sobald man mit der Bestrafung von Meinungsäußerungen anfängt. Am Ende besteht nämlich die Gefahr, in einem Staat aufzuwachen, in dem die Meinungsfreiheit auf dem Altar der Political Correctness geopfert wurde.

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[1] siehe Gefährliches Glatteis vom 30.08.2010, Konsequent an den Fakten vorbei vom 27.08.2010, und Thilo Sarrazin hat unrecht vom 13.10.2009
[2] Wikipedia, Radikalenerlass, Folgen
[3] WDR
[4] Udo Leuschner, Der Radikalenerlass