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15. Oktober 2010, von Michael Schöfer
"Mehr Demokratie wagen" ist aktueller denn je


"Die deutsche Wirtschaft fordert nach den massiven Protesten gegen Stuttgart 21 und andere Großprojekte raschere Entscheidungsverfahren mit geringeren Einspruchsrechten der Bürger", berichtet die Frankfurter Rundschau. [1] Bei Angela Merkel soll dieser Vorschlag angeblich auf Sympathie stoßen. Dass die Wirtschaft Demokratie als ziemlich lästig empfindet, insbesondere wenn sie ihren Geschäftsinteressen im Wege steht, ist keineswegs neu. Doch künftig die Beteiligungsrechte der Bürger zu reduzieren, weil "Stuttgart 21" gezeigt habe, dass in Deutschland keine Großprojekte mehr durchzusetzen seien, geht genau in die falsche Richtung. Das Gegenteil wäre notwendig: Mehr anstatt weniger Bürgerbeteiligung. Mit noch mehr "Arroganz der Macht" wird man den Riss, der zwischen Regierenden und Regierten klafft, kaum kitten können.

Die Grundaussage ist zudem falsch, Großprojekte sind sehr wohl durchsetzbar, sogar gemeinsam mit dem Volk. Beispiel Gotthard-Basistunnel: Heute hat man in der Schweiz beim längsten Eisenbahntunnel der Welt den Durchstich geschafft. Länge 57 km, mit allen Quer- und Verbindungstollen insgesamt 153,5 km Tunnelstrecke, die Baukosten sollen 11,7 Mrd. Franken (= 8,7 Mrd. Euro) betragen. [2] Bei dem Großprojekt, in seinen Dimensionen zweifellos gigantischer als "Stuttgart 21", wurde allerdings das Volk von Anfang an mit einbezogen. Jahrelange Diskussionen mündeten am Ende sogar in eine Volksabstimmung: Am 27.09.1992 stimmten 63,6 Prozent im sogenannten Alpentransit-Beschluss dem Eisenbahnprojekt Neue Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) zu. Ein Lehrbeispiel für Baden-Württemberg. So hätte man es machen müssen, wer weiß was dabei herausgekommen wäre. Jetzt sind die Fronten natürlich verhärtet.

Solange Politiker und Unternehmer meinen, das Volk wäre zu dumm, um über derartige Fragen selbst zu entscheiden, werden sie tatsächlich zunehmend Proteste ernten. Ständig das Wort Demokratie im Munde führen, aber im Ernstfall weniger Demokratie praktizieren wollen, funktioniert einfach nicht mehr. Die Zeiten ändern sich. Direkte Demokratie ist zugegebenermaßen mühsam, weil man die Menschen mit guten Argumenten überzeugen muss. Und wer schlechte Argumente hat, fällt bei Volksabstimmungen eben durch. Risiken gibt es ebenfalls (z.B. Minarett-Beschluss). Dennoch: Nur dünkelhafte Zeitgenossen glauben, es stets besser zu wissen als die Mehrheit. Davon haben wir allerdings momentan viel zu viele. Leider. Elitäres Denken ist out, diese Erkenntnis ist bei den Verantwortlichen bloß noch nicht angekommen. Sie sind selbst schuld: Zunächst glaubten sie, den Stein der Weisen gefunden zu haben. Begeisterung, ja Euphorie machte sich breit. Erste zaghafte Proteste nahmen sie kaum wahr, die Projektgegner erschienen ihnen eher wie lästige Stechmücken. Die kann man übergehen, dachten sie. Notfalls mit ein paar schmutzigen Tricks. Mit einem Wort: vernachlässigbar. Bis die Proteste plötzlich zu einem Tsunami anschwollen. Und die Politiker machen den Eindruck, wie wenn sie gar nicht begreifen würden, was da vor sich geht. Fassungslosigkeit spiegelt sich in ihren Gesichtern.

Vom Grundgedanken her hat "Stuttgart 21" durchaus seinen Reiz. Aber der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Über diese Details wollen die Bürger nicht nur ehrlich informiert werden, sondern letztlich auch selbst darüber entscheiden. Und wenn sie nicht wollen, dann wollen sie halt nicht. Geht dadurch die Welt unter? Es ist zwar nicht alles Gold, was bei unserem südlichen Nachbar glänzt, aber es hat durchaus Gründe, weshalb im vergangenen Jahr in der Schweiz 265.944 deutsche Staatsangehörige lebten und sie dort mittlerweile hinter den Italienern die größte Ausländergruppe sind. [3] Das sind beileibe nicht alles steuerflüchtige Millionäre. Kurzum, das Anliegen Willy Brandts, "Mehr Demokratie wagen", ist hierzulande aktueller denn je. Nur ist bedauerlicherweise weit und breit kein Politiker seines Formats zu erkennen, der dem Nachdruck verleihen könnte.

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[1] Frankfurter Rundschau vom 14.10.2010
[2] Wikipedia, Gotthard-Basistunnel
[3] Schweizer Bundesamt für Statistik, Wohnbevölkerung nach detaillierter Staatsangehörigkeit, Excel-Datei mit 58 kb