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02. März 2013, von Michael Schöfer
Alljährlich grüßen die Kaffeesatzleser


Wir leben in schlimmen Zeiten, zumindest sind sie das für die professionellen Kaffeesatzleser. Hans-Werner Sinn beispielsweise sagt ständig das Gegenteil dessen, was er ein halbes Jahr zuvor behauptet hat. "Die deutsche Konjunktur schwächt sich weiter ab", verkündete er im August 2012. [1] Heute stellt er dagegen fest: "Die deutsche Wirtschaft nimmt Fahrt auf." [2] Sinn ist für seine sprunghaften Prognosen berüchtigt. Als in Amerika gerade die Subprime-Krise am Platzen war, versprach der "klügste Wirtschaftsprofessor Deutschlands" (BILD) noch vollmundig: "Der Aufschwung ist nach wie vor da, er hat Kraft, er wird sich auch über 2008 hinaus fortsetzen, mit etwas Glück bis zum Ende des Jahrzehnts." [3] 2009 erlebte die Bundesrepublik mit einem Minus von 5,1 Prozent den größten Einbruch ihrer Wirtschaftsgeschichte. Sinn hat zwar vorher die schwerste Finanz- und Wirtschaftskrise der letzten 80 Jahre übersehen, aber wenigstens konnte er uns nachher genau erläutern, wie es zu ihr kam. "Hans-Werner Sinn erklärt, warum Banker zu Glücksrittern wurden, und hinterfragt die zweifelhafte Rolle der Rating-Agenturen sowie das Engagement der deutschen Banken", steht im Klappentext seines Buches "Kasino-Kapitalismus". [4] Alle Achtung, Herr Sinn, tolle Leistung! Leider ist bei Prognosen der kleine Unterschied zwischen "vorher" und "nachher" extrem wichtig, offenbar spielt er bloß bei den Kaffeesatzlesern eine untergeordnete Rolle.

2009 sagte Sinn "zwei Jahre Eiszeit" voraus [5], 2011 erläuterte er uns dann nicht weniger überzeugend "die Konjunktur brummt wegen der Krise" [6]. Sein Pech, das er aber wie immer rhetorisch brillant umschiffte: Die deutsche Wirtschaft war 2010, also mitten in der von ihm prophezeiten "Eiszeit", um 4,2 Prozent gewachsen. [7] Obendrein war das die höchste Steigerung seit der Wiedervereinigung. Man könnte bei ihm die Gegenüberstellung von Prognose und Realität fast endlos fortsetzen, doch das würde schnell zu gähnender Langeweile führen.

Wenden wir uns deshalb anderen Kaffeesatzlesern zu. Die "Konsumausgaben steigen auch 2013", verkündet die GfK zur Zeit. Der Einzelhandel werde "um etwa 1,1 Prozent zulegen". [8] Doch das hatte die GfK bereits für 2012 vorhergesagt: Die Einzelhandelsumsätze in Deutschland steigen "trotz der anhaltenden Diskussionen um die europäische Wirtschafts- und Finanzkrise um etwa ein Prozent". [9] Tatsächlich ist der Einzelhandelsumsatz bloß um 0,1 Prozent gestiegen. [10] Das ist bei einem Umsatz von 100 Euro immerhin der Unterschied zwischen 10 Cent und einem Euro.

Der "Einzelhandel erwartet ein opulentes Weihnachten", prophezeite die GfK im November 2012. "Steigende Löhne und eine hohe Beschäftigungsrate werden das Weihnachtsgeschäft wohl ordentlich ankurbeln. 285 Euro wird sich der Verbraucher im Durchschnitt nach Erkenntnis der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) in diesem Jahr seine Weihnachtsgeschenke kosten lassen. Das wären neun Prozent mehr als im Vorjahr." [11] Notorisch optimistisch war auch der Handelsverband Deutschland (HDE). "Vorfreude aufs Weihnachtsgeschäft, Einzelhändler erwarten Rekordumsatz", jubelte die Spitzenorganisation des deutschen Einzelhandels. Grund sei "die gute Stimmung bei den Verbrauchern". [12] Gegenüber dem Vorjahresmonat ist der Einzelhandelsumsatz im Dezember 2012 allerdings um 3,7 Prozent gesunken. [13] Das opulente Weihnachten fiel somit aus, der Rekordumsatz war eine Fata Morgana.

Warum werden die Kaffeesatzleser trotzdem überall zitiert? Warum liest man in der Presse ständig ihre - wie sich erst später herausstellt - falschen Prognosen? Und vor allem: Warum ist die Situation in Wahrheit oft anders, als sie vorhersagen? Antwort: Realitätsverweigerung. Die GfK attestiert den Verbrauchern seit Jahren steigende Kauflaune, obwohl die Reallöhne in den letzten 20 Jahren meist gesunken sind (der Reallohnindex ist heute 1,9 Punkte niedriger als 1992). Kurios: Der HDE spricht sich gegen den soeben vom Bundesrat beschlossenen gesetzlichen Mindestlohn aus. "Es gilt, die kluge und bedachtsame Tarifpolitik, die in der Wirtschaftskrise für den Erhalt der Jobs in Deutschland gesorgt hat, aufrechtzuerhalten. Staatliche Einmischungen gefährden dieses erfolgreiche System. Beim gesetzlichen Mindestlohn ist gut gemeint das Gegenteil von gut gemacht", meint HDE-Geschäftsführer Heribert Jöris. [14] Natürlich hat er vor allem die Kostenseite im Fokus, der Einzelhandel ist wegen des niedrigen Lohnniveaus kein attraktiver Arbeitgeber und müsste höhere Löhne zahlen. Ausgeblendet wird von ihm freilich die umsatzsteigernde Wirkung der allgemeinverbindlichen Lohnunterkante. Die Konsumquote (Anteil der Konsumausgaben am verfügbaren Einkommen) ist bekanntlich bei den Niedrigverdienern am höchsten, der Einzelhandel würde daher vom gesetzlichen Mindestlohn wahrscheinlich sogar überproportional profitieren. Doch wenn nicht einmal das Kaufkraftargument bei den Einzelhändlern sticht...

Gäbe es weniger Kaffeesatzleser, wäre vielleicht auch die Lage in der Eurozone besser. Es ist doch äußerst peinlich, dass etwa der IWF kleinlaut einräumen muss, die negative Wirkung des Sparkurses sträflich unterschätzt zu haben. Der Sparkurs bremst "weltweit die Wirtschaft viel stärker (...) als ursprünglich gedacht", heißt es neuerdings. "Laut der Analyse des IWF in seinem halbjährlichen Weltwirtschaftsausblick wurde der Multiplikator-Effekt von Einsparungen im Haushalt auf das Wachstum in bisherigen Modellen meist bei rund 0,5 angesetzt. Das bedeutet, wenn der Haushalt um ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts gekürzt wird, fällt die Wirtschaftsleistung um 0,5 Prozent. Eine empirische Studie verschiedener Volkswirtschaften des IWF habe aber ergeben, dass der Multiplikator-Effekt tatsächlich viel höher liege, und zwar zwischen 0,9 und 1,7." [15] Angeblich bedeutet das jedoch laut IWF "nach gängiger ökonomischer Lehre (…) nicht, dass eine Wirtschaft in eine sich selbst verstärkende Abwärtsspirale einer durch das Sparen verschärften Rezession gerät", bedauerlicherweise ist aber gerade das festzustellen: Der Sparkurs wirkt zweifellos krisenverschärfend, die Wirtschaft bricht ein, die Schuldenquote steigt. Es wird deshalb Zeit, die "gängigen ökonomischen Lehren" endlich infrage zu stellen. Anscheinend sind die Kaffeesatzleser damit vollkommen überfordert, denn sie halten stur an erwiesenermaßen falschen Rezepten fest.

Es würde schon helfen, Hans-Werner Sinn & Co. künftig einfach zu ignorieren. Oder die Kaffeesatzleser beharrlich mit ihren Falschprognosen zu konfrontieren. Dann wäre deren Nimbus schnell dahin und wir könnten uns den echten Problemen widmen. Ich bin gespannt, ob die Target-Salden, auf denen Sinn seit Monaten herumreitet, im Falle der Implosion der Eurozone wirklich so eminent wichtig sind. Bestimmt wird er uns hinterher wortreich erklären, warum sich die Sorgen wegen den Target-Salden als unbegründet herausgestellt haben. Außerdem: Hat er das nicht schon immer gesagt?

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[1] Der Tagesspiegel vom 27.08.2012
[2] RP-Online vom 23.02.2013
[3] Der Tagesspiegel vom 25.06.2007
[4] Perlentaucher
[5] Spiegel-Online vom 05.01.2009
[6] Handelsblatt vom 12.10.2011
[7] Statistisches Bundesamt, Inlandsproduktsberechnung
[8] Süddeutsche vom 19.02.2013
[9] Infodienst vom 15.02.2012
[10] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 077 vom 01.03.2013
[11] Handelsblatt vom 26.11.2012
[12] RP-Online vom 08.11.2012
[13] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 077 vom 01.03.2013
[14] HDE, Pressemeldung vom 27.02.2013
[15] Financial Times Deutschland vom 11.10.2012