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22. Dezember 2010, von Michael Schöfer
Blockade beim Mindestlohn


Paradiesische Zustände: Die Regierung erhöht den gesetzlichen Mindestlohn zum 1. Januar 2011 um 1,9 Prozent. "Der monatliche Mindestlohn für nicht qualifizierte Arbeitnehmer wird von 1.724,81 auf 1.757,56 Euro angehoben. Der Lohn für qualifizierte Beschäftigte erhöht sich von 2.069,77 auf 2.109,07 Euro." [1] Nein, nein, hier handelt es sich weder um Science-Fiction noch um die wundersame Renaissance des Arbeiter- und Bauernstaates, sondern um den gesetzlichen Mindestlohn im Großherzogtum Luxemburg. Es gibt ihn tatsächlich in dieser Höhe. Und der christlich-soziale Premierminister des Großherzogtums, Jean-Claude Juncker, verteidigt den Mindestlohn nicht nur, sondern verlangt sogar dessen Ausweitung auf ganz Europa (zugegebenermaßen nicht unbedingt auf luxemburgischem Niveau). "Ein Mindestlohn, der in ganz Europa gilt, sei nicht nur sozial, sagte er. Er sei auch im Interesse der Wirtschaft." [2] Mindestlöhne verhindern seiner Ansicht nach Lohndumping und schaffen dadurch Wettbewerbsgleichheit unter den Arbeitgebern. Für einen erklärten Freund Helmut Kohls äußerst bemerkenswert.

Hierzulande würde ein solch üppiger Mindestlohn bei Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) einen Tobsuchtsanfall oder Herzinfarkt hervorrufen. Vermutlich sogar beides. Deutschland hat es, zumindest aus neoliberaler Sicht, wesentlich besser: Es gibt bei uns gar keinen gesetzlichen Mindestlohn, lediglich ein paar branchenspezifische Lohnuntergrenzen. Der Lebensmitteldiscounter Lidl fordert aber jetzt einen gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro pro Stunde, das würde bei einer 40-Stunden-Woche einen Bruttomonatslohn von 1.740 Euro ergeben (40 Stunden x 10 Euro x 4,35 Wochen/Monat). Ausgerechnet Lidl, bislang nicht gerade für arbeitnehmerfreundliches Verhalten bekannt. Dennoch formiert sich bereits Widerstand: "Beim Einzelhandelsverband HDE stößt der neuerliche Vorstoß auf Ablehnung. 'Einen Mindestlohn in Höhe von zehn Euro schließe ich aus. Das ist unrealistisch', sagte HDE-Geschäftsführer Heribert Jöris." [3]

Im Einzelhandel gilt noch die 37,5-Stunden-Woche, die Lidl-Forderung würde somit für die Branche auf einen Mindestlohn von 1.631,25 Euro hinauslaufen (37,5 Stunden x 10 Euro x 4,35 Wochen/Monat). Die Einkommen des Einzelhandels in Baden-Württemberg beginnen jedoch derzeit bei 1.436 Euro (Gehälter) bzw. 1.575 Euro (Löhne). [4] Gerade Berufsanfänger könnten von der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes in Höhe von 10 Euro profitieren. Übrigens nicht bloß im Einzelhandel, denn Deutschland ist in Europa mittlerweile bei den Einkommen stark zurückgefallen. "In der Bundesrepublik sind die Bruttolöhne und -gehälter in den vergangenen zehn Jahren um 22,4 Prozent gestiegen." Damit ist Deutschland mit Abstand das Schlusslicht in der Europäischen Union, dort waren es im Durchschnitt nämlich 37,4 Prozent. [5] Die Realeinkommen, also die Bruttolöhne und -gehälter nach Abzug von Steuern, Sozialabgaben und Preissteigerungsrate, sind hierzulande sogar gesunken.

Überblick über die gesetzlichen Mindestlöhne [6]
Staat € pro Stunde (2010) € pro Monat (2009)
Luxemburg 9,97 1724,8 (2010)
Frankreich 8,86 1321,0
Irland 8,65 1462,0
Niederlande 8,64 1382,0
Belgien 8,41 1387,5
Australien 8,07
Vereinigtes Königreich 6,51 1010,3
Österreich 5,99 1000,0 (2008)
Kanada 5,69
Neuseeland 5,65
Japan 5,47
USA 5,20 844,2
Griechenland 4,28 680,6
Zypern ~3,91 698,0 (2008)
Israel 3,80
Spanien 3,84 728,0
Malta 3,81 630,0
Slowenien 3,45 589,2
Portugal 2,86 525,0
Korea 2,32
Kroatien ~2,38 380,0
Tschechien 1,82 306,3
Slowakei 1,77 295,5
Polen 1,76 281,2
Estland 1,73 278,0
Türkei 1,73 318,8
Ungarn 1,52 269,8
Lettland 1,47 254,1
Litauen 1,40 231,7
Bosnien-Herzegowina ~0,99 158,0
Brasilien 1,00 191,30
Rumänien 0,83 153,0
Albanien ~0,80 128,0
Bulgarien 0,71 122,7
Serbien ~0,54 86,1
Montenegro ~0,44 70,0
Ukraine ~0,36 58,0

Doch die Borniertheit der Politik ist unbeschreiblich. Jetzt ist schon die Firma Lidl weiter als die Regierung Merkel/Westerwelle. Das will etwas heißen. Man kann von daher bloß hoffen, dass sich das Problem angesichts des Umfragetiefs der Liberalen demnächst von selbst erledigt. Hält der beispiellose Absturz der Umfragewerte der FDP an (siehe Grafik), ist Schwarz-Gelb bald Geschichte. Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes in Deutschland wäre, ganz im Sinne Jean-Claude Junckers, ein Signal für Europa. Die Probleme des Euro sind nicht zuletzt auf die fatale Lohnkonkurrenz zurückzuführen. Es wird Zeit, die soziale Abwärtsspirale, die sich durch die Finanz- und Wirtschaftskrise weiter verschärft hat, endlich zu durchbrechen. Die Vision von einem geeinten Europa kann nur eine soziale sein. Wer hingegen gierige Banker rettet, die Kosten dafür aber hauptsächlich den Arbeitnehmern, Rentnern und Arbeitslosen aufhalst, ist eindeutig auf dem falschen Weg.


[Quelle: wahlrecht.de]

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[1] Tageblatt vom 16.12.2010
[2] manager-magazin vom 10.09.2008
[3] taz vom 21.12.2010
[4] Verdi, Tarifinfo "Wir im Einzelhandel" Nr. 6/2009, PDF-Datei mit 1,1 MB
[5] Hamburger Abendblatt vom 10.12.2010
[6] Wikipedia, Mindestlohn, Situation in verschiedenen Staaten