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29. Dezember 2010, von Michael Schöfer
Vorsicht


"Die Zahl der Geburten in Deutschland ist in den ersten neun Monaten des Jahres 2010 stark gestiegen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes kamen zwischen Januar und September insgesamt etwa 510.000 Kinder zur Welt. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es nur 492.000 Kinder. Das entspricht einem Plus von 3,6 Prozent. Ein derart großer Zuwachs war im gesamten letzten Jahrzehnt nicht feststellbar", meldet die Süddeutsche mit Verweis aufs Statistische Bundesamt. [1]

Doch Vorsicht: Wer zu früh jubelt, könnte sich am Ende blamieren. Wir erinnern uns: Auch 2008 wurden vorzeitig mehr Geburten gemeldet. "Baby-Boom in Deutschland", hieß es seinerzeit. [2] Und die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen führte die höhere Geburtenrate sogleich auf das von ihr eingeführte Elterngeld zurück. "Das Elterngeld habe die Erwartungen weit übertroffen", behauptete die Ministerin forsch. [3] Alle waren begeistert, endlich sei die Trendwende geschafft. Und die Bundesregierung klopfte sich auf die Schulter. Seht ihr: Unsere Politik! Unsere Politik!

Die ernüchternde Realität folgte allerdings auf dem Fuße: Die tatsächliche Zahl der Geburten war im Jahr 2008 mit 682.514 Neugeborenen gegenüber der des Vorjahres (684.862) leicht zurückgegangen (ein Minus von 2.348 Geburten oder -0,34 %). [4] Die Lobrede Ursula von der Leyens aufs Elterngeld löste sich angesichts der harten Fakten in Luft auf. Es gab hierzulande nicht mehr, sondern weniger Geburten. Keine Trendwende also. Und schon gar kein Baby-Boom. Im Jahr 2009 ist die Zahl der Geburten dann erneut gesunken, und zwar auf 665.126 (-2,55 %).

Bundesfamilienministerin Kristina Schröder ist etwas vorsichtiger als ihre Vorgängerin, in ihrem Haus kann man es aber dennoch nicht ganz lassen: "Im Bundesfamilienministerium wollte man die neuen Zahlen noch nicht kommentieren. Eine Sprecherin verwies jedoch auf aktuelle Studien, wonach 2010 der Kinderwunsch wieder deutlich gestiegen sei. 'Dies ist ein positives Signal', sagte sie, 'wir sind mit unseren Familienleistungen, speziell mit dem Elterngeld und dem Ausbau der Kinderbetreuung auf dem richtigen Weg.'" [5] Das erinnert mich doch sehr an die angeblich stabile oder steigende Kaufkraft, die uns die GfK alljährlich ungefragt aufs Butterbrot schmiert ("Einzelhandelsumsatz bleibt stabil") - bloß um dann kleinlaut eingestehen zu müssen, dass der reale Einzelhandelsumsatz abermals zurückgegangen ist. Ein Spiel, das die Journalisten leider allzu bereitwillig mitspielen.

Insofern ist bei den aktuellen Meldungen über eine stark steigende Geburtenrate ebenfalls Vorsicht angebracht. Ich würde mich freuen, wenn es so wäre, aber letztlich zählen Tatsachen, keine Wünsche.

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[1] Süddeutsche vom 29.12.2010
[2] BZ vom 15.02.2009
[3] Der Tagesspiegel vom 22.10.2008
[4] Statistisches Bundesamt, Natürliche Bevölkerungsbewegung, Geborene und Gestorbene
[5] Süddeutsche vom 29.12.2010


Nachtrag (14.01.2011):
Wo, bitteschön, geht's zum vorhergesagten Baby-Boom? Diese Frage ist allzu berechtigt: "Es wird für das Jahr 2010 mit 665.000 bis 680.000 lebend geborenen Kindern (...) gerechnet", meldete das Statistische Bundesamt gestern [6]. Die Zahl der Geburten in den ersten neun Monaten des Jahres 2010 hat also vermutlich doch getrogen. 680.000 wären immer noch weniger Geburten als 2007 und 2008. Und 665.000 Geburten wären genauso viel wie im geburtenschwächsten Jahr 2009. Es ist immer besser, erst die harten Fakten abzuwarten, bevor man sich Jubelarien hingibt. Wie gesagt, letztlich zählen Tatsachen, keine Wünsche.

[6] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 012 vom 13.01.2011