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14. April 2012, von Michael Schöfer
Die Tyrannei der Fraktionsführungen


"Die Freiheit des Einzelnen ist Grund und Grenze liberaler Politik", heißt es im Leitantrag für das neue Grundsatzprogramm der FDP, das im April auf dem Bundesparteitag in Karlsruhe beschlossen werden soll. "Die Voraussetzung der Freiheit des einzelnen Menschen sind faire gemeinsame Regeln und faire individuelle Chancen", heißt es darin weiter. "Wir ergreifen Partei für die Chancen von Querdenkern, Einsteigern und Machtlosen. Wir treten ein für Toleranz, für freie Entscheidungen, für die Emanzipation des Einzelnen und für die Vielfalt in der Gesellschaft. In bewährter Tradition stehen wir gegen jeden Zwang und die Dominanz einer herrschenden Mehrheit, gegen Bevormundung und Nivellierung, gegen Anpassungsdruck und wirtschaftliche Machtmonopole." [1] FDP-Generalsekretär Patrick Döring sah sich zudem kürzlich dazu berufen, in Anlehnung an Alexis de Tocqueville vor der "Tyrannei der Masse" zu warnen. Im Visier hatte er dabei die aufstrebende Piraten-Partei: "Mir war wichtig deutlichzumachen, dass es neben einem politischen Beteiligungsinstrument wie der Schwarmintelligenz etwas mehr braucht, um eine politisch ernstzunehmende Kraft zu werden", verteidigte er sich gegen seine Kritiker. [2]

Die Warnung vor der "Tyrannei der Masse" kann leicht als Warnung vor der Demokratie verstanden werden, denn in einer Demokratie entscheidet schließlich - wenigstens der Theorie nach - die Masse mittels einer Mehrheitsentscheidung über den politischen Kurs der Gesellschaft. Anders ausgedrückt: Dörings Äußerung ist eine Gratwanderung haarscharf am Rande der Verfassungswidrigkeit. Dass einer Klientelpartei Mehrheitsentscheidungen suspekt erscheinen, versteht sich fast von selbst. Insofern befindet sich Döring in allerbester liberaler Tradition. Der spezielle Markenkern der FDP ist ja, Freiheit de facto als "Freiheit von gesamtgesellschaftlicher Verantwortung" zu definieren. Jeder sei seines Glückes Schmied: "Jeder Mensch soll faire Chancen haben, sich gemäß der eigenen Talente und Ideen zu entfalten, von eigener Arbeit zu leben und nach eigener Façon glücklich zu werden." Die gesellschaftliche Verantwortung beschränkt sich aus liberaler Sicht auf "faire gemeinsame Regeln" und "Chancengerechtigkeit". "Chancengerechtigkeit heißt, dass alle Menschen am Start gerechte Chancen erhalten, sich ihren Bedürfnissen, Potentialen und ihrer Leistungsfähigkeit entsprechend in einer freien Gesellschaft entfalten zu können. Und Gleichheit sichert allen Menschen vor dem Gesetz die gleichen Rechte zu."

Die FDP favorisiert demzufolge nicht "Gleichmacherei", sondern setzt vielmehr auf das "Wettbewerbs- und Leistungsprinzip". "Fairness hat nicht die Gleichheit von Ergebnissen zum Ziel." Das ist im Umkehrschluss als Zementierung der strukturellen gesellschaftlichen Ungleichheit zu verstehen. Wenig überraschend, die FDP ist eben doch die Partei der Besserverdienenden. Nebenbei bemerkt: Die Forderung der FDP passt perfekt zur Grundaussage des Schröder-Blair-Papiers aus dem Jahr 1999: "In der Vergangenheit wurde die Förderung der sozialen Gerechtigkeit manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt." Das war die marktradikale Ausrichtung der SPD unter Gerhard Schröder, die uns unter anderem "Hartz IV" beschert hat und nach wie vor von vielen in der Parteiführung, darunter den potentiellen Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück, gutgeheißen wird.

Andererseits, wer beschäftigt sich schon mit dem Grundsatzprogramm der FDP - einer Partei, die inzwischen am Rande der Bedeutungslosigkeit herumkrebst? (Es sei denn, Christian Lindner hievt seine Partei in NRW über die 5-Prozent-Hürde - gewissermaßen die Auferstehung vor dem Tode - und wird dadurch zum liberalen Messias.) In den Augen der Wählerinnen und Wähler, der ach so verachtenswerten Masse, ist die politische Praxis ausschlaggebend. Aber gerade die ist perfide: Union, SPD und FDP wollen künftig das Rederecht der Parlamentarier einschränken, es soll noch stärker als bislang von den Fraktionen kontrolliert werden. "Mit den neuen Regeln soll der Parlamentspräsident verpflichtet werden, das Wort nur mehr den von der Fraktion eingeteilten Rednern zu erteilen. Andere Abgeordnete darf er nur ganz ausnahmsweise und nur noch drei Minuten lang reden lassen - auch dies nur 'im Benehmen mit den Fraktionen'." [3] Hintergrund ist, dass Bundestagspräsident Norbert Lammert in der Debatte über das Euro-Hilfspaket zwei Abweichlern das Wort erteilte, obgleich diese von ihren Fraktionen gar nicht als Redner nominiert waren.

Selbstentmündigung: Maulkorb für Parlamentarier
[Quelle: Deutscher Bundestag]

Die skeptische Haltung der Bundesbürger zur Euro-Rettung sollte sich nach Ansicht der Fraktionen im Parlament nicht widerspiegeln. In einer repräsentativen Demokratie eigentlich ein Unding. Außerdem: Im Grundgesetz kommt das Wort "Fraktionen" nur ein einziges Mal vor: In Artikel 53a, in dem es um die Bildung des Gemeinsamen Ausschusses von Bundestag und Bundesrat geht. In Artikel 38 heißt es dagegen: "Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages (...) sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen." Nur ihrem Gewissen, nicht den Aufträgen und Weisungen der Fraktionsführungen. Einen wie auch immer gearteten Fraktionszwang sieht die Verfassung überhaupt nicht vor, vom eingeschränkten Rederecht ganz zu schweigen. Der Bundestag darf sich lediglich eine Geschäftsordnung geben (Artikel 40). Und genau das ist jetzt angesagt: Die Herstellung von Stromlinienförmigkeit mit Hilfe von Geschäftsordnungstricks.

Was sind nun in diesem Zusammenhang die von der FDP propagierten "fairen Regeln"? Müsste Patrick Döring hier nicht vor der, um in seinem Jargon zu bleiben, "Tyrannei der Fraktionsführungen" warnen? "Wir ergreifen Partei für die Chancen von Querdenkern, Einsteigern und Machtlosen. Wir treten ein für Toleranz, für freie Entscheidungen, für die Emanzipation des Einzelnen und für die Vielfalt in der Gesellschaft." Ja, möglicherweise irgendwo, aber ganz bestimmt nicht dort, wo laut Verfassung die Entscheidungen fallen, nämlich im Parlament. Dort soll es keine Chancen für Querdenker geben, ist keine Toleranz angesagt und werden freie Entscheidungen offenbar nur höchst ungern geduldet. Und von wem? Von der angeblich so freiheitsliebenden FDP, die sich zumindest in ihrem neuen Grundsatzprogramm gegen "jeden Zwang und die Dominanz einer herrschenden Mehrheit" sowie gegen "Bevormundung und Anpassungsdruck" ausspricht. Papier ist bekanntlich geduldig.

Döring braucht sich folglich nicht darüber zu wundern, dass die Piraten-Partei in der aktuellen Sonntagsfrage (Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre…) auf 11 Prozent kommt. Und es verwundert noch viel weniger, dass die FDP derzeit im Bund nur drei Prozent bekäme. Das Freiheitsgefasel der FDP ist nämlich nur für die Galerie, in Wahrheit will man lieber - siehe oben - nicht allzu viel Freiheit gewähren. Und dabei kommt ihr das eingeschränkte Rederecht von "frei gewählten Abgeordneten" durchaus zupass. Mit einem Wort: Es ist beschämend.

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[1] FDP, Leitantrag "Verantwortung für die Freiheit. Freiheitsthesen der FDP für eine offene Bürgergesellschaft.", PDF-Datei mit 358 kb
[2] Berliner Zeitung vom 13.04.2012
[3] Süddeutsche vom 14.04.2012