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07. Juni 2012, von Michael Schöfer
Gummigeschosse - eher Waffen für den Bürgerkrieg


Rainer Wendt, der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), hat nach den Ausschreitungen von Hamburg, bei denen 38 Polizisten verletzt wurden, den Einsatz von Gummigeschossen gefordert. "Wenn Wasserwerfer nicht mehr reichen, muss die Polizei als Antwort auf die Steine, Brandsätze und Stahlkugeln der Demonstranten Gummigeschosse einsetzen", sagte er der BILD-Zeitung. [1] Diese Forderung kommt von Wendt nicht zum ersten Mal, bereits 2007 hat er angesichts der Ausschreitungen bei der G8-Kundgebung in Rostock die Verwendung von Gummigeschossen befürwortet: "Die Polizei braucht wirkungsvolle Distanzwaffen. Das sind Gummiwucht- und Gummischrotgeschosse. Damit müssen unsere Hundertschaften jetzt ausgestattet werden, um in Situationen, bei denen Steine geworfen werden, auf die Störer einwirken zu können." Und auf die Frage "Können Gummigeschosse töten?" antwortete der Gewerkschaftsvorsitzende: "Gummigeschosse können vor allem sehr weh tun und auch Verletzungen hervorrufen. Aber Waffen, die wirken sollen, müssen auch weh tun dürfen." Doch der Interviewer insistierte: "Noch einmal: Kann ein Gummigeschoss, das einen Demonstranten am Kopf trifft, diesen töten?" Darauf Wendt: "Nein. Ein solcher Fall ist nicht bekannt. Diese Waffen werden in vielen anderen Ländern sehr erfolgreich erprobt." [2]

Die Konkurrenz von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) wehrte sich wiederum vehement gegen den Einsatz von Gummigeschossen: "'Distanzwaffen mit Gummigeschossen sind kein geeignetes Einsatzmittel', die Gefahr für Unbeteiligte sei zu groß", entgegnete der frühere GdP-Vorsitzende Konrad Freiberg. [3] An dieser Einschätzung hat sich bis dato nichts geändert, denn auf die aktuelle Forderung Wendts erwiderte Frank Richter, der GdP-Landesvorsitzende von Nordrhein-Westfalen: "Wer Gummigeschosse einsetzen will, nimmt bewusst in Kauf, dass es zu Toten und Schwerverletzten kommt. Das ist in einer Demokratie nicht hinnehmbar." [4] "Die Polizei muss bei Demonstrationen mit aller Entschiedenheit gegen militante Gewalttäter vorgehen, aber wir leben in Deutschland nicht in einem Bürgerkrieg. Wir sollten ihn auch nicht herbeireden." [5] Die GdP weist darauf hin, dass allein in Nordirland zwischen 1970 und 2005 17 Menschen durch Gummigeschosse getötet wurden.

In der Tat sind Gummigeschosse bislang überwiegend in Bürgerkriegen oder kriegsähnlichen Situationen eingesetzt worden, vor allem in Nordirland und in den von Israel besetzen Palästinensergebieten. Mit zum Teil verheerenden Folgen, es gab etliche Tote und zahlreiche Schwerverletzte - übrigens auch bei Unbeteiligten: Am 4. November 1971 schoss in Belfast ein britischer Soldat Emma Groves, einer Mutter von 11 Kindern, mit einem Gummigeschoss ins Gesicht. Sie stand in ihrem Haus am Fenster und verlor das Augenlicht. Nachdem in Nordirland mehrere Kinder durch solche Geschosse starben, gründete Groves die Organisation "United Campaign Against Plastic Bullets". Im Oktober 1976 wurde der 13-jährige Brian Stewart durch eine Plastikkugel, die ihm ein britischer Soldat ins Gesicht schoss, getötet. Der 15-jährige Paul Whitters starb im April 1981, nachdem ihn ein Polizeibeamter am Kopf traf. Die 12-jährige Carol Ann Kelly wurde im Mai 1981 getötet, als sie sich mit der von ihr eingekauften Milch auf dem Nachhauseweg befand. [6] Der 11-jährige Stephen McConomy starb am 19. April 1982 - drei Tage zuvor hatte ihm ein britischer Soldat eine Plastikkugel an den Kopf geschossen. Der 10-jährige Stephen Geddis war am 29. August 1975 das erste Kind, das in Nordirland durch ein Plastikgeschoss starb, der 15-jährige Seamus Duffy 1989 das bis zum Berichtszeitpunkt letzte. Insgesamt wurden in diesem Zeitraum sieben Kinder durch die gemeinhin als "non-lethal weapons" (nicht-tödliche Waffen) bezeichneten Geschosse getötet. [7]

Wie gefährlich Gummigeschosse sein können, belegen die Vorkommnisse während der Revolution in Ägypten. Ein Scharfschütze der Polizei hat in Kairo Menschen gezielt in die Augen geschossen, fünf von ihnen verloren dabei ihr Augenlicht. [8] Auch in der Schweiz sei der Verlust von Augen durch den Beschuss mit dem dort verwendeten Gummischrot dokumentiert. Es nütze überhaupt nichts, aus 20 Metern Schussdistanz nur auf die Beine zu zielen, weil man dabei "eine Streuung von zwei Metern einrechnen" müsse. Unbeabsichtigte Augenverletzungen seien also kaum zu vermeiden. Treffen die Gummigeschosse im Halsbereich auf, komme es überdies zu Todesfällen. [9] Aus Israel/Palästina berichtet die israelische Menschenrechtsorganisation "B'tselem" von vielen Todesfällen durch den Beschuss mit Gummigeschossen, allerdings verwenden die israelischen Soldaten Stahlkugeln mit einer Gummiummantelung. Das größte Problem stellen Zufallsziele dar: "Personen, die einfach dazwischen gelaufen sind, und die beabsichtigte Distanz durch das Unglück ihres überraschenden Auftritts gefährlich verkürzen. Ein Beispiel dafür ist der Tod eines palästinensischen Jungen, der mit 9 Gummikugeln im Kopf starb." [10] Straßenschlachten finden naturgemäß selten auf freiem Feld statt, sondern vielmehr in dicht besiedelten Wohngebieten. Aber genau da sind Treffer auf Unbeteiligte am wahrscheinlichsten.

Können Gummigeschosse wirklich bloß "sehr weh tun"? Und sind Todesfälle durch Gummigeschosse tatsächlich "nicht bekannt"? Das dürfte angesichts der o.g. Fälle als widerlegt gelten. Schade, Rainer Wendt hätte sich ganz einfach im Internet informieren können, dann wäre er wenigstens etwas nachdenklich geworden, ob seine Forderung tatsächlich der Weisheit letzter Schluss ist. Wir haben ja noch alle den Einsatz im Stuttgarter Schlossgarten vor Augen, den sogenannten "Schwarzen Donnerstag" (30.09.2010). Dieser "völlig aus dem Ruder gelaufene" Polizeieinsatz [11], bei dem bekanntlich mindestens ein Demonstrant sein Augenlicht verlor, war mitverantwortlich für den Machtverlust von Stefan Mappus (CDU). Damals kamen indes "lediglich" Wasserwerfer zum Einsatz. Sollte es irgendwann einmal bei der von Wendt befürworteten Verwendung von Gummigeschossen Schwerverletzte oder Tote geben, möglicherweise sogar von unbeteiligten Kindern, wird der Stuttgarter Proteststurm im Vergleich dazu wohl nur ein laues Lüftchen gewesen sein. Doch auch in Stuttgart hatte Rainer Wendt, der laut Wikipedia häufiger durch verbale Ausfälle von sich Reden macht [12], in seiner Gewerkschaft aber offenbar unumstritten ist ("knapp 99 % " Zustimmung bei seiner Wiederwahl), nur trocken kommentiert: "Polizeiliche Einsatzmittel müssen Waffen sein, die weh tun, nur dann wirken sie."

Nachdenklichkeit ist zweifellos nicht die Stärke des als eloquent geltenden Gewerkschafters. Höchst bedauerlich, denn es wäre - zumal in dieser exponierten Stellung - äußerst vorteilhaft zu wissen was man sagt, nicht allein wie man es sagt. "Rhetorik ist deshalb ein Problem, weil es schwierig ist, gleichzeitig zu reden und zu denken. Politiker entscheiden sich meistens für eines von beiden." (Mark Twain) Nun ja, und Gewerkschafter sind doch in gewissem Sinne ebenfalls Politiker. Oder nicht?

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[1] BILD vom 04.06.2012
[2] Süddeutsche Zeitung vom 04.06.2007
[3] Spiegel-Online vom 05.06.2007
[4] BILD vom 05.06.2012
[5] GdP-Bundesvorstand vom 05.06.2012
[6] Wikipedia (Englisch), Emma Groves
[7] BBC News World Edition vom 02.08.2001
[8] Neue Zürcher Zeitung vom 23.01.2012
[9] Spiegel-Online vom 05.06.2007
[10] Telepolis vom 10.06.2007
[11] Thomas Mohr von der GdP Mannheim im Spiegel Nr. 44/2010
[12] Wikipedia, Rainer Wendt, Verbale Ausfälle