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10. August 2012, von Michael Schöfer
Pressemeldung aufgehübscht oder falsch interpretiert?


Rechnen und Lesen sind für Journalisten eigentlich Grundvoraussetzungen, damit sie überhaupt ihren Beruf ausüben können. Und auch was Recherchieren ist, müsste ihnen irgendwie bekannt sein, das gehört jedenfalls zum Einmaleins des Journalismus. Leider halten sich nicht alle daran, wie etwa die Redakteure von Focus-Online.

"Deutsche Forscher haben in Laos eine Riesenspinne ohne Augen entdeckt. Die fast handtellergroße Sinopoda scurion lebe in einer Höhle ohne Tageslicht", las man gestern auf der Website des Münchner Magazins. [1] Die in Laos entdeckte Spinne gehört zwar zur Familie der Riesenkrabbenspinnen, die eine Beinspannweite von 25 bis 30 cm erreichen können, diese Spezies ist aber mit einer "Körpergröße von etwa zwölf Millimetern" und einer "Beinspannweite von sechs Zentimetern" vergleichsweise klein ausgefallen.

Doch "Riesenspinnen" scheinen es dem Focus generell angetan zu haben - ganz unabhängig von ihrer tatsächlichen Größe. Auch in Israel habe man eine "Riesenspinne" entdeckt, informierten uns die Redakteure vor zwei Jahren. [2] Die Cerbalus aravaensis hat zwar eine Beinspannweite von 14 Zentimetern und besitzt eine Körpergröße von drei Zentimetern, ist aber dennoch alles andere als eine "Riesenspinne". Sie ist groß, aber keineswegs "riesig". Zum Vergleich: Die Goliath-Vogelspinne (Theraphosa blondi) ist mit einer Körperlänge von bis zu 12 Zentimetern und einer Beinspannweite von bis zu 30 Zentimeter doppelt so groß wie die israelische "Riesenspinne". Von der laotischen "Riesenspinne" ganz zu schweigen, deren Beinspannweite fünfmal und deren Körpergröße zehnmal kleiner ausfällt. Auch im Jahr 2009 ist laut Focus eine angebliche "Riesenspinne" entdeckt worden, diesmal auf Madagaskar. Doch deren Körpergröße von "knapp vier Zentimetern" kann ebenso wenig mit der einer Vogelspinne konkurrieren. Dem Münchner Magazin zufolge (Eigenwerbung: "Fakten, Fakten, Fakten") soll die Madagaskar-"Riesenspinne" eine Beinlänge von "bis zu zwölf Zentimetern" aufweisen [3], während Wikipedia von lediglich 7,5 Zentimetern spricht. [4]

Aber es kommt noch besser: Seltsamerweise ist nämlich die 2012 "erstmals entdeckte" blinde laotische "Riesenspinne" ein publizistischer Wiedergänger, denn bereits 2005 hat der Focus über die "durchsichtige Riesenspinne ohne Augen" berichtet. [5] "Spinnen dieser Gattung waren uns schon aus anderen Höhlen bekannt, aber sie hatten immer Augen und eine komplette Pigmentierung", zitiert der Focus 2012 Peter Jäger von der Abteilung Arachnologie (Spinnenkunde) des Senckenberg Forschungsinstituts in Frankfurt. Der gleiche Peter Jäger, der 2005 mit den Worten "Die hatten wir noch nie gesehen" und "Die hat ja gar keine Augen" zitiert wurde. Sogar das Spinnenbild ist mit dem von damals identisch. Noch kurioser: Am 04.06.2005 schreibt der Focus unter dem Bild der Spinne: "In einer Höhle in Laos wurde vor einigen Jahren [sic!] diese durchsichtige Spinnenart entdeckt. Das Besondere an ihr: Sie hat keine Augen, dafür orientiert sie sich mit speziellen Hör-Haaren." [6] Demnach wäre die Spinne sogar einige Zeit vor dem Jahr 2005 entdeckt worden. Ja was denn nun? Ist es ein läppischer Datum-Fehler bei Focus? Kann ja mal passieren, allerdings hat 2005 auch der Stern schon über die augenlose Spinne in der laotischen Höhle berichtet. [7] Was ihn nicht davon abhielt, sieben Jahre danach erneut über den "Sensationsfund in Laos" zu berichten. Ganz so, als sei die Nachricht wirklich absolut neu. Und, wen wundert's, auch hier das gleiche Spinnenbild. [8]

Andere Medien sind genauso schlampig im Umgang mit den Fakten: "Augenlose Riesenspinne entdeckt", meldete der Sender n-tv gestern über die mindestens seit 2005 bekannte laotische Höhlenspinne. [9] Bei "Google news" findet man derzeit über 100 Artikel zur vermeintlich neu entdeckten laotischen Riesenspinne ohne Augen. Vermutlich schreibt einer die Falschmeldung des anderen ohne nachzudenken einfach ab. Allen Artikeln dürfte wohl die Pressemeldung des Senckenberg Forschungsinstituts zugrunde liegen, in der der Spinnenforscher Dr. Peter Jäger von seinem Fund berichtet. Doch die Pressemeldung stammt von 09. August 2012, woher hatten dann der Focus und der Stern bereits 2005 Kenntnis von der Spinne? Oder hat Jäger 2012 erneut eine ältere Pressemeldung aufgewärmt? Wenn man sich die Pressemeldung des Senckenberg Forschungsinstituts genauer ansieht, stellt Dr. Jäger gar nicht seinen Spinnenfund, sondern vielmehr die dazugehörige Studie vor, die "im Fachjournal Zootaxa" erschienen ist. Jäger schreibt: "Ich habe die Spinne in einer Höhle in Laos gefunden." Er schreibt nicht, dass er sie 2012 gefunden hat. Dass der Fund neu sei, behauptet nur die Presse. Wahrscheinlich haben die Journalisten seine Meldung bloß falsch interpretiert. Oder man hat die Nachricht, dass eine Studie über die vor etlichen Jahren gefundene laotische Spinne erschienen ist, kurzerhand ein bisschen aufgehübscht, um sie interessanter zu machen. Nun ja, das ist vielleicht bei Spinnen möglich, denn über diese Tiere herrscht ja allenthalben große Unkenntnis. Beim Erscheinen einer Studie über die erste Mondlandung könnte man dagegen dem Leser kaum weismachen, die habe gerade erst - und nicht bereits am 20. Juli 1969 - stattgefunden. Bei Spinnen ist das offenbar kein Problem.

Fassen wir zusammen: Es ist also weder eine "Riesenspinne" noch ist deren Fund neu. Rechnen, Lesen und gründliches Recherchieren ist bei Journalisten offenbar aus der Mode gekommen. So viel zum angeblich weit verbreiteten Qualitätsjournalismus.

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[1] Focus-Online vom 09.08.2012
[2] Focus-Online vom 13.01.2010
[3] Focus-Online vom 21.10.2009
[4] Wikipedia, Nephila komaci
[5] Focus-Online vom 04.06.2005
[6] Focus-Online vom 04.06.2005
[7] Stern-Online vom 04.06.2005
[8] Stern-Online vom 10.08.2012
[9] n-tv vom 09.08.2012


Nachtrag (11.08.2012):
Wie mir Dr. Jäger auf meine Anfrage hin per E-Mail bestätigte, hat er "die erste Spinne der Sinopoda scurion 2003 gesammelt". Die Entdeckung stellt sich also in der Tat als gar nicht so neu heraus.