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13. August 2012, von Michael Schöfer
Ein bisschen viel Zufälle


Beim Plot eines Krimis würde man sagen: eindeutig überkonstruiert, so viele Zufälle auf einmal kann es eigentlich gar nicht geben. Doch wir sind nicht beim "Tatort" und seinen mal mehr, mal weniger an den Haaren herbeigezogenen Drehbüchern, sondern im richtigen Leben. Die Polizistin Michèle Kiesewetter wurde am 25. April 2007 in Heilbronn ermordet. Wie man heute weiß, wurde die Tatwaffe bei der Zwickauer Terrorzelle "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) gefunden. Das genaue Motiv, warum Michèle Kiesewetter erschossen wurde, liegt aber weiterhin im Dunkeln. Die offizielle Version des Bundeskriminalamtes lautet mittlerweile, die Täter hätten die Polizistin erschossen, um an deren Dienstwaffe zu gelangen. Das BKA schließt zumindest neuerdings eine Beziehungstat aus.

Das ist jedoch alles andere als einleuchtend. Es gab für die Terrorzelle gewiss viel risikoärmere Quellen, an Waffen zu gelangen, als ausgerechnet am helllichten Tag auf einem Parkplatz zwei Polizeibeamte niederzuschießen. Zumal sie ja auch bereits im Besitz von Schusswaffen waren. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt galten als Waffennarren. Und da sollen sie keine besseren Bezugsquellen gekannt haben, als auf zwei Polizisten zu schießen? Unglaublich. "Im Wohnmobil von Mundlos und Böhnhard wurden mehrere Waffen sichergestellt. Dabei handelte es sich unter anderem um die gestohlenen Dienstwaffen der 2007 in Heilbronn ermordeten Polizistin und ihres verletzten Kollegen. Auch in den Trümmern der ausgebrannten Wohnung von Zschäpe stellten Ermittler neun Faustfeuerwaffen, ein Gewehr und eine Maschinenpistole sicher." [1] Wenn das Trio Probleme hatte, dann offenkundig keine bei der Beschaffung von Schusswaffen.

Es war der Chef des BKA höchstpersönlich, der im November 2011 vor dem Bundestags-Innenausschuss erstmals eine Beziehungstat ins Spiel brachte. Michèle Kiesewetter habe in direkter Nähe eines Lokals der rechten Szene in ihrem Heimatort Oberweißbach gewohnt, gab Jörg Ziercke zu Protokoll. Inzwischen wird das jedoch bestritten, auch passe der zeitliche Ablauf nicht zusammen. Als der Gasthof vom Schwager eines Neonazis, der wiederum Kontakt zur Terrorzelle hatte, eröffnet wurde, war die Polizistin längst bei der Bereitschaftspolizei in Baden-Württemberg. Allerdings war sie mehrfach zu Besuch in ihrem Heimatort, der mit knapp 1900 Einwohnern recht übersichtlich ist. Auszuschließen ist also letztlich nichts. Der Mord sei aber dennoch Zufall gewesen, weil die Täter nicht haben wissen können, dass Kiesewetter im Dienst ist, sagt das BKA heute. Die Polizistin war am Tattag kurzfristig aus dem Urlaub heraus im Dienst eingesprungen.

Zufällig waren wohl auch zwei Beamte der Bereitschaftspolizei Böblingen kurze Zeit Mitglied beim rassistischen Ku-Klux-Klan. Kollegen von Michèle Kiesewetter. "Der jüngere der zwei heute 42 und 31 Jahre alten Polizisten war sogar Gruppenführer von Kiesewetter in der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit 523, ab und an gingen sie gemeinsam in Kneipen und Diskos. Er war auch am Tag von Kiesewetters Ermordung mit in Heilbronn und hielt sich nur wenige hundert Meter vom Tatort entfernt am Bahnhof auf", berichtet die taz. [2] Außerdem: "Mehrere später in der NPD aktive Neonazis sollen in der rund 20 Mann und Frau starken Truppe mitgemischt haben." Gibt es da womöglich eine Querverbindung vom Ku-Klux-Klan via NPD zur NSU? Als Drehbuchautor des "Tatort" würde ich die sicherlich ziehen. Doch in der Realität? Den Spekulationen und Verschwörungstheorien sind jedenfalls Tür und Tor geöffnet.

Dass Nazis Schweine sind, ist bekannt. Aber solche Dreckschweine? Kriminaltechniker haben auf einer Jogginghose, die in der Wohnung der Terrorzelle sichergestellt worden war, Blutspuren gefunden. Einer DNA-Analyse zufolge gehört das Blut eindeutig Michèle Kiesewetter. Die Jogginghose wurde also vier Jahre lang nicht ein einziges Mal gewaschen? Welch ungeheurer Zufall. Wie man sieht, nicht der erste: Zufällig haben die Sicherheitsbehörden bei der Mordserie allesamt total versagt. Und das über mehr als zehn Jahre hinweg. Zufällig wurden Akten des Verfassungsschutzes geschreddert. Und das gleich mehrfach. Der bislang größte bekanntgewordene Zufall ist sicherlich die Anwesenheit eines hessischen Verfassungsschützers bei einem NSU-Mord in Kassel. Natürlich gibt es im Leben sonderbare Zufälle, aber bei der NSU-Mordserie kommen schon ein bisschen viel Zufälle zusammen. Keiner, bei dem man sagen könnte, man habe den "rauchenden Colt" gefunden. Doch alle zusammen hinterlassen ein recht merkwürdiges Gefühl.

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[1] Wikipedia, Nationalsozialistischer Untergrund, Waffenfunde
[2] taz vom 10.08.2012