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25. August 2012, von Michael Schöfer
Warum denn gleich aufgeben?


"Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, dann würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen", soll Martin Luther gesagt haben. Den einen gilt der Satz als Zeichen für unerschütterlichen Optimismus, den anderen als Beleg für grenzenlose Naivität. Die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo in der Mitte. Ein Blick in die Geschichtsbücher lehrt: Auch am tiefsten Punkt der Menschheitsgeschichte, als die Lage düster und schier ausweglos erschien, ging es hinterher doch irgendwie weiter. Umgekehrt gilt: Rückschritte in längst überwunden geglaubte Zeiten sind nie auszuschließen, der Fortschritt ist keine linear ansteigende Kurve, sondern gleicht eher einer Zickzack-Linie - der ewige Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei.

"Man muss leider konstatieren, dass Deutschlands politische und ökonomische Eliten auf ganzer Ebene versagt und aufgrund ihrer ignoranten Borniertheit den europäischen Traum zu Grabe tragen. Sollte die Politik die Verantwortung der Stunde nicht erkennen, steht dem Kontinent eine düstere Periode bevor", schreibt Jens Berger ohne große Hoffnung auszustrahlen auf den NachDenkSeiten. [1] Was war passiert? Wenige Tage zuvor hatte Heiner Flassbeck, ehedem beamteter Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen und heute Chefvolkswirt der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD), gewissermaßen das Handtuch geworfen: Er empfahl die Trennung. Nein, nicht die des Glamour-Vorzeigepaars Brad Pitt und Angelina Jolie, sondern die der Eurozone. "Kennen Sie das auch? Man trifft auf Paare, wo man schon nach fünf Minuten weiß, dass sich da zwei Menschen miteinander quälen, die sich nichts mehr zu sagen haben und auch sonst geistig längst getrennte Wege gehen. Dennoch schaffen sie es nicht, sich und dem anderen genau das einzugestehen. Würden Sie es tun, hätten vielleicht beide noch einmal eine neue Chance auf ein bisschen Glück. Auch könnten sie bis an ihr Lebensende gute Freunde bleiben und die Jahre des Gegeneinanderlebens vergessen. Aber nein, allzu oft gelingt das nicht, weil das Ende mit Schrecken doch so schrecklich erscheint, dass der Schrecken ohne Ende vorgezogen wird. So ist das mit dem Euro." [2] "Wenn nun sogar schon progressive Geister wie Paul Krugman, Joseph Stiglitz, Nouriel Roubini und Heiner Flassbeck an der Einfältigkeit der Politik und der Unfähigkeit der Ökonomen verzweifeln, und für die Eurozone lieber ein Ende mit Schrecken als einen Schrecken ohne Ende wünschen, ist dies ein Alarmsignal. Leider muss man Flassbeck in seiner Beschreibung des Status quo Recht geben", kommentiert Berger.

Warum denn gleich aufgeben? Die Rettung naht: Griechenland, Portugal, Spanien, Italien, Irland, Slowenien - alle machen momentan die Erfahrung, dass man sich mit rigiden Kürzungen nicht aus der Krise sparen kann. Großbritannien, obgleich im Besitz einer eigenen Währung, schwächelt ebenfalls. "Die Regierung in London will die Wirtschaft durch einen rigiden Sparkurs ankurbeln", meldet die Financial Times Deutschland. [3] "Na dann fröhliches Gelingen", wünscht Jens Berger spöttisch. [4] Allein Frankreich stemmt sich noch tapfer gegen die verheerende Sparwut. Wer weiß, wie lange. Der Teufelskreis aus Kürzung der Staatsausgaben, Ansteigen der Arbeitslosigkeit, Schrumpfung der Kaufkraft, Zurückhaltung der Unternehmen bei den Investitionen, Einbruch des Wirtschaftswachstums, Anstieg der Schulden, was letztlich abermals zu Kürzungen bei den Staatsausgaben führt etc., wird demnächst gewiss durchbrochen. Denn mit ihrer stupiden Austeritätspolitik à la "schwäbischer Hausfrau" legt sich die politische Klasse Europas sozusagen eigenhändig aufs Schafott (natürlich nur im übertragenen Sinne), der Raubtierkapitalismus zerlegt sich nämlich dadurch selbst. Wenn sich die Völker in naher Zukunft kollektiv weigern, ihre immensen Schulden zurückzuzahlen, haben plötzlich auch die notorischen Steuerhinterzieher gewaltige Sorgen am Hals. Ihre Konten in den Steueroasen, letztlich nur ein papiernes Versprechen auf unter Umständen vollkommen wertlosen Bankauszügen, schmelzen dann dahin wie Butter in der Sonne. Jeder Verbindlichkeit steht nun mal eine entsprechende Forderung gegenüber. Eine Binsenweisheit. Das Establishment hat sich dazu entschlossen, die Völker Europas einer Schock-Therapie auszusetzen. Okay, in Ordnung. Nur zu. Mal sehen, wer am Ende am meisten geschockt ist. Wer nicht viel hat, hat bekanntlich auch nicht viel zu verlieren. In ruhigen Zeiten fürchtet der Arme den Reichen, in unruhigen Zeiten ist es eher umgekehrt.

Dabei muss man bloß den kollektiven Wahn durchbrechen, es könnte irgendwie so weitergehen wie gehabt. Durchwursteln ist out. Ohne tiefgreifende Maßnahmen, ich nehme jetzt das böse Wort "Umverteilung" in den Mund, wird es nicht klappen. Die wachsende Ungleichheit (ein Drittel des globalen Geldvermögens befindet sich in den Händen von nicht einmal 100.000 Menschen = 0,001 Prozent der Weltbevölkerung) [5] hat in der Vergangenheit die Zeitspanne zwischen den einzelnen Krisen immer kleiner werden lassen. Gleichzeitig wuchs die Schwere der Krisen ständig an. Wer aus Europa ein Armenhaus machen will, hat momentan gute Karten. Doch er sollte sich Gedanken machen, wie es sich als Reicher in einem Armenhaus leben lässt. Die Geduld der Menschen ist schließlich nicht grenzenlos. Kluge Politiker würden deshalb einen sanfteren Weg zur Beseitigung der Krise wählen. Einen Weg, bei dem sie durchaus auch einmal über ihren ideologischen Schatten springen. Ich fürchte bloß, unsere Politiker sind nicht klug genug. Jens Berger hat recht, sie haben es vergeigt. Insofern ist jetzt genau die richtige Zeit, ein Apfelbäumchen zu pflanzen. Ob das zu optimistisch oder zu naiv ist, wird die Geschichte zeigen.

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[1] NachDenkSeiten vom 24.08.2012
[2] NachDenkSeiten vom 21.08.2012
[3] FTD vom 24.08.2012
[4] NachDenkSeiten vom 24.08.2012
[5] Le Monde diplomatique Nr. 9875 vom 10.8.2012, Nicola Liebert, Fataler Reichtum, Zu viel Geld in falschen Händen