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09. Dezember 2012, von Michael Schöfer
Die Kandidatenrede


Ganz so viel wie Angela Merkel, 97,94 Prozent, hat er nicht bekommen, bei ihm waren es "bloß" 93,45 Prozent. Doch das ist, hüben wie drüben, sowieso lediglich eine Pflichtübung gewesen, schließlich wollen beide Parteien im nächsten Jahr die Macht sichern respektive erringen. Die eigene Kandidatin bzw. den eigenen Kandidaten zu beschädigen, kann sich deshalb niemand leisten. Am allerwenigsten die SPD, steht doch Peer Steinbrück schon allein wegen seinen üppigen Redehonoraren seit Wochen im Kreuzfeuer der Kritik.

Der ehemalige Ministerpräsident und Bundesfinanzminister wollte sich mit seiner Parteitagsrede der Bevölkerung als Kanzlerkandidat empfehlen - und vor allem endlich aufs programmatische Gleis gelangen. Das ist allerdings nur mäßig gelungen. Zwar hat er - sichtlich bemüht - die Unterschiede zur Union herausgearbeitet, aber die deutliche Alternative ist er dennoch schuldig geblieben. Da drängte sich nichts gleich auf den ersten Blick auf, bei seinem fast zweistündigen Themen-Hopping fehlte vielmehr die klare Linie. Der Funke hat einfach nicht gezündet. Mit einem Wort: Enttäuschend.

Parteitagsreden sind ohnehin langweilig, besonders bei der SPD. Der ausführliche Rückblick auf August Bebel, Otto Wels und Willy Brandt dient gewissermaßen als Nachweis der eigenen Herkunft. Da weht dann plötzlich Tradition durch den Saal. Ob das jedoch Wählerstimmen bringt, ist mehr als fraglich. Denn was sagt uns Bebel im Hinblick auf die Energiewende oder die Eurokrise? Nicht allzu viel. So wird es vermutlich den meisten Wählerinnen und Wählern gegangen sein.

Das Schlimmste für die SPD und den Kandidaten sind freilich die mit den Händen zu greifenden Widersprüche. Wenn Steinbrück etwa den Niedriglohnsektor, die Leiharbeit oder das magere Rentenniveau beklagt, schwingt im Hintergrund stets unausgesprochen ein Name mit: Gerhard Schröder. Der hat nämlich mit seiner Agenda-Politik den Niedriglohnsektor gefördert, die Leiharbeit ausgebaut und die gesetzliche Rente zugunsten der privaten Vorsorge (Riester!) zusammengestrichen. Armut in Deutschland trägt heutzutage einen Stempel, und auf dem steht: SPD. Wenn Steinbrück die Gesellschaft aus dem Leim gehen sieht (die soziale Balance stimme nicht), weil sich beispielsweise die Wohlhabenden im Penthouse bequem eingerichtet hätten, liegt er damit keineswegs falsch. Doch das geneigte Publikum fragt sich natürlich, ob das auch für den Honorar-Millionär Steinbrück gilt. "Mein Thema ist die Gerechtigkeit", behauptet der Kandidat. Wie er das glaubwürdig verkaufen will, ist schleierhaft. Sicherlich, kein Kandidat muss notwendigerweise arm sein. Aber am zunehmenden Auseinanderdriften der Gesellschaft hat Steinbrück in der Vergangenheit einen erklecklichen Anteil gehabt. Da kommt einem schnell der Satz "Anderen Wasser predigen und selber Wein trinken" in den Sinn.

Peer Steinbrück startet mit einer schweren Hypothek im Gepäck, doch für seine Partei gab es bei der Kandidatenkür keine gangbare Alternative. Die fulminante Bestätigung des im Hinterzimmer ausgekungelten Kanzlerkandidaten war daher zu erwarten, denn wer hätte es stattdessen machen sollen? Der blamable Verlierer der letzten Bundestagswahl, Frank-Walter Steinmeier? Der im Umfragekeller festsitzende Parteichef Sigmar Gabriel? Vielleicht Hannelore Kraft, die Frau mit Charisma, doch die wollte nicht. Noch nicht. Ob Steinbrück Kanzler wird, liegt hauptsächlich an der FDP. Scheitert die Partei der Besserverdienenden an der 5-Prozent-Hürde, könnte es durchaus für eine rot-grüne Mehrheit reichen. Abwarten, bis zum Wahltag kann noch viel passieren. Herzen fliegen dem SPD-Kandidaten jedenfalls keine zu, er muss sich den Wahlsieg, so er ihn überhaupt erringt, Stück für Stück hart erarbeiten.

Schlimmer: Ihn beim Wort genommen zu haben, dürfte dereinst viele Enttäuschungen hervorrufen. Gerade dann, wenn er tatsächlich gewinnt. Im Bund waren Regierungszeiten für die SPD meist ernüchternd: Helmut Schmidt gründete gewissermaßen die Grünen, Gerhard Schröder half tatkräftig bei der Westausdehnung der PDS. Die SPD lebt schon viel zu lange von der Substanz, da ist eine weitere Abspaltung kaum noch verkraftbar, die alte Tante ist ziemlich dürr geworden. Dass es der Union (Volker Kauder: "Auf die Kanzlerin kommt es an") nicht besser geht, ist für die SPD wenig tröstlich. Solange Angela Merkel vergleichsweise beliebt ist, hat Steinbrück das Nachsehen. Ob er das wirklich wettmachen kann, ist offen. Lassen wir uns überraschen.

Wenn ich die ketzerische Prognose wagen darf: Ob im nächsten Jahr die Union oder die SPD gewinnt, wir sich in der Praxis eh kaum bemerkbar machen. Nicolas Sarkozy alias François Hollande lässt grüßen.