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04. August 2013, von Michael Schöfer
Überwachung - na und?


Vom Aussterben bedrohte Tierarten werden bekanntlich auf die "Rote Liste" gesetzt. Aber das, was durch die Enthüllungen von Edward Snowden offenbar gerade ausstirbt, ist das Vertrauen. Für aussterbendes Vertrauen existiert allerdings keine Rote Liste. Doch ohne Vertrauen können wir nicht leben (höchstens in totaler Isolation). Wir müssen wenigstens einem kleinen Kreis unserer Mitmenschen Vertrauen schenken: Lebenspartnern, Eltern, Kindern, Freunden etc. Ohne ein Mindestmaß an Vertrauen kann keine Firma existieren und kommt kein Geschäft zustande. Würden wir uns ohne Vertrauen in das Funktionieren technischer Systeme in ein Flugzeug setzen? Wohl kaum. Und wir müssen notgedrungen darauf vertrauen, dass unsere Lebensmittel genießbar sind. Wer allem und jedem misstraut, wird psychisch krank. Verfolgungswahn ist pathologisch.

An der Rehabilitation der unter Verfolgungswahn leidenden Menschen arbeiten derzeit die Geheimdienste, allen voran die amerikanische NSA und das britische GCHQ. Nach dem, was man bislang weiß, sogar sehr erfolgreich. Das, was früher als pathologisch galt, das Gefühl des ständig Überwachtwerdens, entpuppt sich jetzt als bittere Realität. Krank sind in Wahrheit die, die dem Staat allzu viel Vertrauen entgegenbringen. Eigentlich müsste man von nun an den "Vertrauenswahn" auf die Liste der psychischen und Verhaltensstörungen setzen. Dieses Krankheitsbild ist jedoch so neu, dass man es - im Gegensatz zum Verfolgungswahn - noch nicht einmal bei Wikipedia findet.

Definitiv pathologisch ist das grenzenlose Misstrauen des Staates gegenüber seinen Bürgern. Die Geheimdienste pflügen mit ihren Programmen buchstäblich die ganze Gesellschaft um und bringen dadurch unser Wertesystem durcheinander. Wer Freund, wer Feind ist, verschwimmt zusehends. XKeyscore heißt eines dieser Geheimdienstwerkzeuge. Die NSA kann damit angeblich auf den Inhalt von E-Mails, Facebook-Chats und sogar Browserverläufe zugreifen. In Echtzeit, wohlgemerkt. "Das XKeyscore-Programm ermöglicht es Analysten, die IP-Adresse jeder Person herauszufinden, die auf einer ausgewählten Webseite surft." [1] Und wir müssen davon ausgehen, dass erst die Spitze des Eisbergs bekannt geworden ist.

Oft projizieren wir unsere schlechten Absichten auf andere, wodurch manchmal vor allem die eigenen Gedanken erkennbar werden. "Der ehemalige NSA-Chef Michael Hayden, der selbst wegen des Abhörprogramms Prism international unter Beschuss steht, warnte erst kürzlich vor Spionage durch den chinesischen Handy-Fabrikanten und Mobilfunkbetreiber Huawei. Das Misstrauen reicht aber offenbar noch deutlich weiter. Einem Medienbericht zufolge haben die Geheimdienste der USA, Kanadas, Großbritanniens, Australiens und Neuseelands die PC des chinesischen Herstellers Lenovo auf den Index gesetzt - und zwar schon im Jahr 2006. (…) Demnach habe bereits damals ein Labortest ergeben, dass die verbauten Chips prinzipiell dafür geeignet seien, geheimen Programmcode auf die betroffenen Computer einzuschleusen." [2]

Man darf daher davon ausgehen, dass selbst in Hardwarebestandteilen Backdoorseingebaut sind, die sich zur Überwachung und zur Platzierung von weiterer Schadsoftware eignen. Ob die westlichen Geheimdienste gegenüber chinesischen Hardware-Herstellern misstrauisch wären, wenn sie nicht selbst über entsprechende Fähigkeiten verfügen würden? Das, was die Amerikaner können, unterstellen sie natürlich auch den Chinesen. Dadurch wird indirekt deutlich, was die westlichen Geheimdienste vielleicht schon lange nutzen. Zumal die bedeutendsten Hersteller von Computerchips aus den USA (Intel, AMD, Nvidia, Texas Instruments, Qualcomm), Japan (Toshiba, Renesas, Sony), Südkorea (Samsung Electronics, Hynix), den Niederlanden (NXP Semiconductors, STMicroelectronics) und Deutschland (Infineon) kommen. Die größten Software-Schmieden (Microsoft, IBM, Apple, Oracle, Adobe, Novell, SAP) übrigens ebenfalls. "Haltet den Dieb" ist in Geheimdienstkreisen eine beliebte Ablenkungstaktik.

Das bedeutet wahrscheinlich für Otto Normaluser: Es gibt keinen effektiven Schutz, alles ist potentiell kompromittierbar, jeder kann beinahe lückenlos überwacht und im Bedarfsfall durch das gezielte Unterschieben von Beweismitteln kriminalisiert werden. Die einzige Alternative: Ein Leben ohne Computer, ohne Handy und ohne Internet. Hätte man das vor einem halben Jahr behauptet, wäre man bestimmt für verrückt erklärt worden. Heute muss man dagegen diejenigen für verrückt erklären, die glauben, keiner Überwachung ausgesetzt zu sein. Das erinnert stark an den Film "Fletcher’s Visionen", in dem der scheinbar wirre Verschwörungstheoretiker Jerry Fletcher am Ende tatsächlich recht behält.

Werden wir jemals wieder Vertrauen haben können? Das ist so gut wie ausgeschlossen, denn ausgerechnet die Institution, die uns vor der Überwachung schützen soll, der Staat, betreibt sie schließlich selbst. Es bedürfte einer enormen gesellschaftlichen Kraftanstrengung, diesen bizarren Zustand wieder zu ändern. Schon allein das Vorhandensein der schier unfassbaren technischen Möglichkeiten baut einen immensen Überwachungsdruck auf, dem sich die Politik nur schwer entziehen kann (sofern sie es überhaupt will). Zudem ist offenbar die Fähigkeit von Experten, Überwachungsmaßnahmen zu entdecken und zu unterbinden, äußerst gering. Wenn die westlichen Geheimdienste chinesischen Hardware-Herstellern wie Huawei oder Lenovo misstrauen, ohne gleichzeitig stichhaltige Beweise vorlegen zu können, sind die Möglichkeiten, jemanden auszuspähen, vermutlich nahezu grenzenlos.

Begrenzt ist hingegen die Empörung der Bevölkerung: "In einer repräsentativen Emnid-Erhebung für den Nachrichtensender N24 fürchteten zwar 42 Prozent der Befragten, dass ihre E-Mails und Telefonate abgehört werden, aber die Mehrheit von 55 Prozent der Deutschen teilte diese Sorge nicht. Die meisten Deutschen glauben auch nicht, dass die Bundesregierung an den Überwachungsmaßnahmen der US-Geheimdienste etwas ändern kann. 53 Prozent der Befragten vermuten, dass die Regierung in Berlin keine Möglichkeit hat, etwas gegen das US-Spähprogramm zu unternehmen." [3] Ist es Blauäugigkeit? Ist es Fatalismus?

Dass nur 12 Prozent die Kritik der Opposition an der Bundesregierung für glaubwürdig halten, spielt dabei keine unwesentliche Rolle. Die einfache Formel "Abwahl Merkel = Ende der Überwachung" funktioniert nicht, solange man etwa der SPD in puncto Überwachung die gleichen Absichten unterstellen darf. Der SPD-Politiker Otto Schily war von 1998 bis 2005 Bundesminister des Innern und spricht von einer wahnhaften Furcht vor dem Staat. "Die größte Gefahr geht vom Terrorismus und von der Organisierten Kriminalität aus. Ich finde manches Getöse, was da im Moment zu hören ist, nicht angemessen." [4] Anders ausgedrückt: Der permanente Rechtsbruch durch die Geheimdienste ist irrelevant. Das gestattet einen tiefen Blick in Schilys Verfassungsverständnis, von so jemandem sind natürlich keinerlei Aktivitäten zu unserem Schutz vor Bespitzelung zu erwarten. Auch der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Frank-Walter Steinmeier, von 1999 bis 2005 Kanzleramtschef und damit für die Geheimdienste zuständig, will von alldem nichts gehört, nichts gesehen und nichts gewusst haben. [5] Mit einem Satz: Den drei größten Parteien, CDU, CSU und SPD, ist diesbezüglich nicht zu trauen. Auf eine erdrutschartige Änderung des Wahlverhaltens der Bevölkerung ist leider - siehe oben - ebenso wenig zu hoffen. Das heißt, es geht im Wesentlichen weiter wie bisher, realistisch sind allenfalls kosmetische Korrekturen. Schlimme Aussichten also.

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[1] Süddeutsche vom 31.07.2013
[2] Süddeutsche vom 30.07.2013
[3] TheEpochTimes vom 18.07.2013
[4] Spiegel-Online vom 27.07.2013
[5] Facebook-Seite von Frank-Walter Steinmeier vom 12.07.2013