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06. August 2013, von Michael Schöfer
Zeitungslektüre ist entspannend...


...glauben viele, aber dem ist nicht so. Im Gegenteil, man regt sich ständig auf. Nicht bloß über die schlechten Nachrichten und die penetrant guten Umfragewerte unserer Kanzlerin, nein, auch über die Ignoranz der Journalisten. Nehmen wir etwa Claus Hulverscheidt von der Süddeutschen, der dort im Wirtschaftsteil über die Steuerpläne der Bundestagsparteien berichtet. Und dann dürfen wir bei ihm die erstaunlichen Sätze lesen: "Ausgerechnet CDU, CSU und FDP lassen diesmal weitgehend die Finger von ihrem einstigen Paradethema, während sich SPD, Grüne und Linke bei der Formulierung ihrer dicken Wahlprogramme in einen nie gekannten steuerpolitischen Ankündigungsrausch hineingesteigert haben. (…) Anders als gern behauptet wird, hat der Bürger also sehr wohl die Wahl - zwischen einem 'Weiter so' mit kleinen Farbtupfern einerseits nämlich und einem radikalen Umbau des Systems andererseits, an dessen Ende wohl ein anderer Staat stünde: einer mit mehr Gleichheit, aber weniger Freiheit. Es geht also am 22. September um mehr als um die üblichen Scharmützel, es geht um eine Richtungsentscheidung." [1]

Haben Sie es nicht ein bisschen kleiner, Herr Hulverscheidt? Ihre Einordnung kommt dem idiotischen CSU-Wahlkampfslogan "Freiheit oder Sozialismus" aus dem Jahr 1976 verdammt nahe. Wer in puncto Steuerpläne "mehr Gleichheit" mit "weniger Freiheit" gleichsetzt, bei dem sind offenbar die Maßstäbe verrutscht. Seit wann machen Steuererhöhungen unfrei? Mit Verlaub: Das ist doch Kappes. Schließlich kommen Steuererhöhungen der Allgemeinheit zugute, der Staat könnte damit beispielsweise Kinderkrippen bauen. Für Eltern ein Zugewinn an Freiheit! Bedrohen Steuererhöhungen meine persönliche Freiheit? Mir kommen da eher die Lauscher der NSA in den Sinn. Hulverscheidts These konsequent zu Ende gedacht, wäre man in einem Staat ohne jegliche Steuern am freiesten. Über Kuwait schreibt das Auswärtige Amt: "Es gibt (praktisch) keine Steuern. Alle öffentlichen Dienste und Sozialleistungen werden direkt vom Staat aus den Erdöleinnahmen finanziert." [2] Und jetzt können wir gerne darüber streiten, ob man in Kuwait freier ist als in Deutschland. Doch wahrscheinlich wird selbst Hulverscheidt nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, die Wahl könnte in dieser Frage auf die arabische Golfmonarchie fallen.

Aber es kommt noch besser: Die Steuerpläne der Grünen sehen vor, dass man ab einem Jahreseinkommen von 60.000 Euro mehr belastet wird. Die Grenze sei gut gewählt, meint Hulverscheidt, denn das verdiene laut Spitzenkandidat Jürgen Trittin ein durchschnittlicher deutscher Arbeitnehmer. "Das Problem ist nur: Trittins Statistik bezieht auch alle Teilzeit- und Minijobber mit ein, wodurch der Durchschnitt massiv nach unten verzerrt wird. (…) Richtiger wäre es, zwei durchschnittliche Vollzeitverdienste zum Maßstab zu nehmen, also etwa 90 000 Euro im Jahr. (…) Manch ein Wähler mag angesichts solcher Zahlen ins Grübeln kommen und sich fragen, ob am Ende nicht ausgerechnet die phantasielosen Weiter-so-Angebote von Union und FDP das geringste Übel darstellen könnten." Hulverscheidt suggeriert, dass Durchschnittsverdiener tatsächlich massiv von den Steuerplänen der Grünen betroffen seien. 90.000 Euro sind bei einem Alleinverdiener und 13 Monatsgehältern 6.923 Euro pro Monat. Teilt man das Ganze gerecht auf beide Ehepartner auf, sind es immerhin 3.461 Euro. Ist das wirklich noch Mittelschicht?

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat die Steuerpläne der Parteien nachgerechnet. "Die geplanten höheren Steuersätze würden nur die einkommensstärksten fünf Prozent aller Haushalte 'in nennenswertem Umfang' belasten. (…) 'Insgesamt verlieren beim SPD-Vorschlag 7,4 Prozent aller Haushalte, also knapp drei Millionen Haushalte', heißt es in der Untersuchung. Bei den Grünen gehörten 6,3 Prozent aller Haushalte zu den Verlierern." [3] Hulverscheidt hätte es leicht nachlesen können - in seiner eigenen Zeitung. Aber Fakten passen offenbar nicht zu seiner Ideologie, weshalb man sie am besten ignoriert. Marc Beise, der Leiter der SZ-Wirtschaftsredaktion, bezeichnete unlängst die Steuerpläne der Grünen in einem Kommentar als "Frontalangriff gegen die bürgerliche Mitte der Gesellschaft". [4] Angesichts der Tatsachen ist das absurd.

Absicht oder Fahrlässigkeit? Wie dem auch sei, es ist jedenfalls höchst bedauerlich, wenn sich in Zeitungen, die Qualitätsjournalismus versprechen, immer wieder Artikel finden, die ihre Leser in die Irre führen. Und aus diesem Grund ist es vollkommen verständlich, wenn man sich darüber aufregt. Oder nicht?

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[1] Süddeutsche vom 06.08.2013
[2] Auswärtiges Amt, Länderinfos Kuwait, Wirtschaftspolitik
[3] Süddeutsche vom 24.07.2013
[4] Süddeutsche vom 18.05.2013


siehe auch Web-Link: DIW, Wochenbericht Nr. 30.2013, Reformvorschläge zur Einkommensteuer, PDF-Datei mit  187 kb