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01. September 2013, von Michael Schöfer
Man sollte es mal versuchen


An der Bundestagswahl 2009 haben sich lediglich 70,78 Prozent der Wahlberechtigten beteiligt, der Nichtwähleranteil lag demzufolge bei knapp 30 Prozent. So wie es momentan aussieht wird sich der Nichtwähleranteil bei der Bundestagswahl 2013 eher vergrößern. Es sei denn, im langweiligsten Wahlkampf in der Geschichte der Bundesrepublik passiert noch etwas Unvorhergesehenes. Bundeskanzlerin Merkel könnte sich etwa verplappern und einen militärischen Alleingang der Bundeswehr zur Bestrafung Baschar al-Assads fordern, was jedoch kaum zu erwarten ist. Sie wird heuer noch nicht einmal, wie anno 2005, ein radikal geändertes Steuersystem ankündigen. Die SPD kann einem also fast leid tun. Aber die Sozialdemokraten sind genaugenommen keine echte Alternative, am wenigsten für die frustrierten Nichtwähler, schließlich haben sie trotz harscher Kritik den Europakurs der Regierungskoalition stets mitgetragen.

Von Nichtwählern werden hauptsächlich drei Argumente ins Spiel gebracht, um die Wahlverweigerung zu rechtfertigen. Erstens: Die Politiker machen sowieso was sie wollen (und nicht, was ihnen die Wähler auftragen). Zweitens: Die Politiker sind alle gleich, es gibt also keine wählbare Alternative. Drittens: Man kann eh nichts bewirken, deshalb bleibt man am besten daheim.

Zugegeben, die Parteien geben oft Versprechen ab, die sie nach der Wahl nicht einhalten. Würde man solche Parteien bei der nächsten Gelegenheit hart abstrafen, käme das bestimmt viel seltener vor. Leider ist das Gedächtnis der Wählerinnen und Wähler recht kurz und reicht kaum bis zum Ende der Legislaturperiode. Noch besser wäre die Möglichkeit, in solchen Fällen Neuwahlen erzwingen zu können, zum Beispiel per Volksabstimmung. Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg, die dafür notwendige Grundgesetzänderung ist zweifellos schwer zu erreichen.

Sind die Politiker respektive Parteien wirklich alle gleich? Am 22. September treten 30 Parteien an, da findet sich - neben den etablierten - sicherlich eine für (fast) jedes politische Anliegen. Die "Feministische Partei Die Frauen" stellt die Interessen von Frauen in den Mittelpunkt, die "Die Violetten – für spirituelle Politik" sieht sich als Vertreterin spiritueller Menschen, die "Rentner Partei Deutschland" konzentriert sich auf die Politikfelder Altersvorsorge, Gesundheit, Bildung. Die "Alternative für Deutschland" strebt die geordnete Auflösung des Euro-Währungsgebietes an, die Partei "Ab jetzt … Demokratie durch Volksabstimmung" fordert Volksabstimmungen nach dem Vorbild der Schweiz, die "Partei Bibeltreuer Christen" fordert sogar - kein Witz - ein Recht auf "Ausstieg aus der Homosexualität". [1] Von rechts (NPD) bis links (MLPD) gibt es eine Fülle von unterschiedlichen Absichtserklärungen. Nein, dass die Politiker bzw. Parteien alle gleich seien, ist eine Legende.

Bleibt noch: Kann man etwas bewirken? Nun, stellen wir uns einmal vor, die LINKE würde anstatt 10 Prozent (wie gegenwärtig in der Sonntagsfrage, Emnid vom 01.09.2013) satte 40 Prozent bekommen. Wählen alle Nichtwähler geschlossen Gregor Gysi & Co., ist das durchaus möglich. Was glauben Sie, was am Wahlabend Punkt 18 Uhr nach der Veröffentlichung der Prognose los wäre? Jörg Schönenborn würde gewiss die Kinnlade herunterfallen. Und auf den ersten Kommentar von Ulrich Deppendorf würde ich mich diebisch freuen. Von den bedepperten Gesichtern der Politiker ganz zu schweigen. Das Establishment wäre geschockt, die Republik schlagartig eine andere. Ich weiß, wenig wahrscheinlich, aber als Spielmaterial hochinteressant.

Geschockt war ich allerdings über die Nachricht, dass "nur 46 Prozent der 18- bis 29-Jährigen wissen, dass die Bundestagswahl im September stattfindet". "Die übrigen Befragten wussten es nicht oder nannten einen anderen Termin. Besser sind die Kenntnisse in allen anderen Altersgruppen: So konnten 83 Prozent der über 45-Jährigen die Frage auf Anhieb richtig beantworten. Insgesamt wissen 73 Prozent aller Bürger, dass die Wahl im kommenden Monat ist." Im Umkehrschluss heißt das freilich: 27 Prozent aller Bürger wussten im August nicht, dass die Bundestagswahl demnächst stattfindet. [2] Oje.

Angeblich sind die Jugendlichen ständig online. Mir stellt sich angesichts der eklatanten Unkenntnis die naheliegende Frage: Was machen die dort? Kommt man dort, wo die sind, tatsächlich nie mit Politik in Berührung? Unglaublich. Wenn die Mehrheit der Jugendlichen und mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung nicht einmal wissen, dass im September gewählt wird, braucht man über Inhalte gar nicht mehr sprechen. Die Einführung des Privatfernsehens hat offenbar nachhaltige Wirkung gehabt. Der Gedanke, die Nichtwähler würden am 22. September ihren Unmut wider Erwarten an der Wahlurne kundtun, ist dennoch äußerst reizvoll, obgleich es bedauerlicherweise aller Voraussicht nach nur ein Gedankenexperiment bleibt.

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[1] Alle Angaben laut Wikipedia
[2] Focus-Online vom 21.08.2013