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04. September 2013, von Michael Schöfer
Moral, Realpolitik und Zynismus


Die Welt erscheint uns oft grausam und zynisch. Und das zu Recht. Der britische Politiker William Ewart Gladstone (1809 - 1898) soll einmal gesagt haben: "Staaten haben keine Freunde, nur Interessen." Das mag noch als nüchterne, aber vollkommen wertfreie Feststellung durchgehen. Zynisch wird der Satz jedoch in der Kombination mit der Haltung Franklin Delano Roosevelts (1882 - 1945), der das Verhältnis der Vereinigten Staaten zum nicaraguanischen Diktator Anastasio Somoza (1896 - 1956) einst wie folgt charakterisierte: "Er mag ein Schweinehund sein, aber er ist unser Schweinehund!" Man kann diese Haltung auch als Realpolitik bezeichnen.

Die Interessen der Staaten, beileibe nicht bloß die der USA, waren seit jeher durchtränkt mit zumindest temporär äußerst nützlichen Schweinehunden. Saddam Hussein (1937 - 2006) war zum Beispiel so einer. Wenigstens zu Beginn war er offenkundig unser Schweinehund - bis er den westlichen Interessen mit der Invasion Kuwaits (Zweiter Golfkrieg) in die Quere kam. Im Ersten Golfkrieg zwischen dem Irak und dem Iran hat Hussein mehrfach Giftgas eingesetzt, dem auf iranischer Seite 5.765 Menschen zum Opfer fielen. [1]

Helle Empörung im Blätterwald der hiesigen Presselandschaft? Drohung mit Bestrafungsaktionen seitens der westlichen Wertegemeinschaft? Fehlanzeige! "Wegen der schlechten Beziehungen des Iran zur internationalen Gemeinschaft, kam es nur zu verhaltenen Protesten gegen den Irak bezüglich dessen Giftgaseinsatz. Dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen lagen am 26. März 1984 stichhaltige Beweise für den Giftgaseinsatz auf irakischer Seite vor. Das State Department war darauf bedacht, bei der Frage nach dem Einsatz von Giftgas gegenüber der irakischen Regierung, das richtige 'Timing' zu erwischen, um die bilateralen Beziehungen nicht zu gefährden. UN-Resolution 582 (1986) vom 24. Februar 1986 stellt erstmals den Einsatz von Giftgas fest und ermahnt beide Konfliktparteien (Iran und Irak) sich an das Genfer Protokoll zu halten. Die UN-Resolution 612 (1988) vom 9. Mai 1988 erwartet, dass beide Parteien in Zukunft auf den Einsatz chemischer Waffen verzichten. Damit war die weltweite politische Reaktion vorgegeben. Es wurden im Ersten Golfkrieg beide Kriegsparteien beschuldigt, Giftgas eingesetzt zu haben." [2]

Die zögerliche Reaktion war, zumindest solange man Realpolitik bevorzugt, sogar verständlich: "Deutsche Firmen lieferten Bagdad die Grundsubstanzen für die Giftgase sowie das Know-how und die Produktionanlagen für ihre Herstellung. (…) Paris und London lieferten die Kampfbomber zum Abwurf von Bomben mit chemischen Sprengköpfen, aus Moskau erhielt der Irak die chemiewaffenfähigen Scud-Raketen." Die Regierung Ronald Reagan half dem Irak mit Satellitenaufnahmen der iranischen Stellungen und "Zieldaten für vier kriegentscheidende Chemiewaffenangriffe gegen die zahlenmäßig überlegenen iranische Truppen". [3] Saddam Hussein war zweifellos ein Schweinehund, doch zu diesem Zeitpunkt hatten wir ihn an der Leine. Der Westen handelte nach dem zynischen Motto: "Der Feind meines Feindes ist mein Freund." Bekanntlich gehören auf die Anklagebank nicht nur die Ausführenden, sondern ebenso die Hintermänner.

Das gleiche Spiel fand beim Giftgasangriff auf die hauptsächlich von Kurden bewohnte irakische Stadt Halabdscha statt. Am 16.03.1988 kamen bei Angriffen der irakischen Luftwaffe 3.200 bis 5.000 Menschen ums Leben, verwendet wurden Senfgas, Sarin, Tabun und ein Kampfstoff auf Zyanidbasis. "Kurz nach dem Angriff scheiterte eine Verurteilung durch den UN-Sicherheitsrat am Veto der USA und den Enthaltungen Großbritanniens, Frankreichs, Australiens und Dänemarks. Erst am 9. September 1988 verurteilte die US-Regierung den Giftgasangriff auf Halabdscha als 'abscheuliche und nicht zu rechtfertigende Tat' des Irak an der kurdischen Bevölkerung." [4]

Hat man hier ebenfalls - wie heute, bloß unter umgekehrten Vorzeichen - von einem Versagen des UN-Sicherheitsrats gesprochen, der angeblich wegen der Verweigerungshaltung einiger Staaten nicht mehr funktioniere? Russen und Chinesen wird ja gerne Blockadepolitik vorgeworfen, und das nicht einmal zu Unrecht. Aber, oh Wunder, beim schändlichen Giftgasangriff auf Halabdscha haben die USA ihr Veto eingelegt, um den damals noch nützlichen Saddam Hussein zu schützen. Es springt einem doch buchstäblich ins Auge, dass die US-Regierung den irakischen Giftgasangriff auf Halabdscha, der im März 1988 stattfand, zunächst noch deckte, ihn aber kurz nach Beendigung des Ersten Golfkriegs am 20. August 1988 plötzlich verurteilte, als man Saddam schon nicht mehr so sehr brauchte (der Mohr hatte seine Schuldigkeit in puncto Iran getan). Als der Diktator seine Nützlichkeit ganz verlor und gegen seinen Herrn aufbegehrte, wurde er endgültig fallen gelassen und schließlich am Ende beseitigt (Dritter Golfkrieg). Bekanntermaßen mit genauso unsauberen Methoden. Er war bestimmt aufs Höchste irritiert, denn die gleichen Staaten, die ihm zuvor, als er den Iran angriff, heimlich anerkennend auf Schulter klopften, beschimpften ihn nun als neuen Hitler. Tja, die Welt ist eben verdammt ungerecht.

Insofern hat Baschar al-Assad nur das Pech, von Anfang an auf der falschen Seite zu stehen. Würde er unseren Interessen dienen, könnte er vielleicht sogar ungestraft Chemiewaffen einsetzen. (Immer unter der Voraussetzung, die syrische Armee ist wirklich für den mutmaßlichen Giftgaseinsatz am 21. August verantwortlich.) Wie damals im Irak hätte der Westen solche hässlichen Dinge womöglich stillschweigend unter den Tisch fallen lassen. Staaten haben keine Freunde, nur Interessen! Und da es dem Westen in Syrien vor allem an einem mangelt, nämlich an Freunden (wohlgemerkt auf beiden Seiten), plädiert die Denkschule der Realpolitiker momentan dafür, den Bürgerkrieg am Köcheln zu halten, aber keinesfalls zu beenden. "Amerika verliert, wenn eine von beiden Seiten gewinnt", schreibt beispielsweise Edward N. Luttwak in der New York Times. Weder Assad noch die Radikalislamisten sollten gewinnen, weil beide den Interessen des Westen schaden. Die Analyse ist nicht einmal falsch, wenngleich die daraus resultierenden Konsequenzen zynisch sind.

So gesehen machen die angedrohten "begrenzten" Luftangriffe auf Syrien plötzlich wieder Sinn. Durch punktuelle Luftschläge soll Assad, dessen Armee seit Monaten auf dem Vormarsch ist, geschwächt werden. Aber selbstverständlich nicht so stark, dass dadurch die Extremisten siegen. Es soll weiterhin - im wahrsten Sinne des Wortes - ein Gleichgewicht des Schreckens herrschen, unter dessen Ägide sich Regierung und Rebellen in einem Abnutzungskrieg am besten gegenseitig zerfleischen. Zynisch, das heißt realpolitisch gedacht geht es deshalb überhaupt nicht um den unterstellten Giftgasangriff durch die syrische Armee. Er ist vielmehr nur der offizielle Grund, die Bombardements vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Und dann macht einem das britische Parlament einen Strich durch die Rechnung.

Nach dieser Lesart sind Barack Obama, David Cameron und François Hollande gar keine Moralisten, die den bedrängten Syrern zu Hilfe eilen wollen, sondern lediglich kaltherzige Interessenvertreter ihrer Länder. Die Reaktion des Westens auf die sogenannte Arabellion ist danach bloß ein Schauspiel zur Durchsetzung dieser Interessen. So würde auch die unverhohlene Billigung des Militärputsches in Ägypten ins Bild passen, bei dem ja ebenfalls mehr als 1.000 Menschen ums Leben kamen.

Muss man annehmen, dass unsere höchsten Politiker gewissenlose Zyniker sind? Oder steht hinter ihrem Verhalten tatsächlich der Wunsch, eine wie auch immer geartete Moral durchzusetzen? Leider kann man nicht in die Köpfe von Politikern hineinsehen, was sie allerdings via Geheimdienste bei uns versuchen. Wie dem auch sei, jedenfalls darf man eines unterstellen: Wer in solch hohe Ämter gelangt, der muss zu einem Gutteil Realpolitiker sein, anders hätte er diese Position gar nicht erreicht. Realpolitik ist nicht immer zynisch, aber erfahrungsgemäß oft. Aus diesem Grund muss man die Motive, jetzt in Syrien eingreifen zu wollen, kritisch hinterfragen und darf nicht den offiziellen Begründungen auf den Leim gehen. Barack Obama hat mittlerweile mit seinem völkerrechtswidrigen Drohnenkrieg mehr Zivilisten auf dem Gewissen, als am 21. August in Damaskus ums Leben kamen. Und so jemand entdeckt dann plötzlich in puncto Syrien die Moral? Ich bitte Sie.

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[1] Wikipedia, Chemiewaffenprogramm des Irak, Einsatz
[2] Wikipedia, Erster Golfkrieg, Einsatz von chemischen Kampfstoffen
[3] taz vom 28.08.2013
[4] Wikipedia, Giftgasangriff auf Halabdscha, Die Verurteilung