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11. Oktober 2013, von Michael Schöfer
Das ist Desinformation, kein Qualitätsjournalismus


Man mag es beklagen, aber das insbesondere durchs Internet viel hektischer gewordene Nachrichtengeschäft lebt überwiegend von reißerischen Schlagzeilen. Sie sollen die Aufmerksamkeit des Lesers gewinnen, täuschen jedoch oft etwas anderes vor, als die Meldungen inhaltlich hergeben. "Sozialabgaben sollen 2014 deutlich steigen", titelt beispielsweise die WAZ. "Arbeitnehmer müssen im kommenden Jahr mit höheren finanziellen Belastungen rechnen." Auch das Hamburger Abendblatt beklagt: "2014 werden Arbeitnehmer stärker zur Kasse gebeten". In der Printausgabe der Süddeutschen steht bedrohlich auf Seite 1: "Deutlich höhere Sozialbeiträge für Arbeitnehmer." Der Focus greift ebenfalls ordentlich in die Tasten: "Versteckte Mehrbelastung: Bis zu 400 Euro weniger netto: So greift uns der Staat heimlich in die Tasche." Klammheimlich, heißt es dort, sorge der Staat dafür, dass immer mehr Geld in seine Kassen wandere. I'm deeply shocked.

Oh Schreck, oh Graus, denkt der Durchschnittsarbeitnehmer, kaum ist die Bundestagswahl vorbei, wird schon wieder kräftig abkassiert. Das konnte man sich ja fast denken. Aber der Großteil der Arbeitnehmer ist entgegen dem Eindruck, den die Schlagzeilen auf den ersten Blick erwecken, gar nicht betroffen. Es werden nämlich am 1. Januar 2014 bloß die Beitragsbemessungsgrenzen angepasst. Ein ganz normaler Vorgang, wie in jedem Jahr. So steigt demnächst die Beitragsbemessungsgrenze zur Renten- und Arbeitslosenversicherung in Westdeutschland auf 5.950 Euro. Das entspricht einer Mehrbelastung von bis zu 192,60 Euro. Im Jahr, wohlgemerkt. Pro Monat sind das lediglich 16,05 Euro. Die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung und der Pflegeversicherung wird auf 4.050 Euro angehoben. Mehrbelastung: In der Krankenversicherung 110,70 Euro und in der Pflegeversicherung bis zu 16,54 Euro. Das sind monatlich 9,23 Euro bzw. 1,38 Euro. [1]

Was bedeutet das konkret? "Eine höhere Belastung entsteht also für alle Arbeitnehmer, die derzeit mehr als 3937,50 Euro brutto im Monat verdienen. Nach Berechnungen des Professors für Steuerwirkungslehre an der Freien Universität Berlin, Frank Hechtner, muss ein kinderloser Single mit einem Monatslohn von 4000 Euro mit zusätzlichen Abgaben von 44,64 Euro im Jahr rechnen. Verdient er 5500 Euro und lebt im Westen, muss er 73 Euro zusätzlich zahlen. Wohnt er im Osten, muss er 175 Euro mehr zahlen. Während im Osten die Belastung auch bei höherem Einkommen nicht mehr steigt, beträgt sie im Westen ab knapp 6000 Euro im Monat 228 Euro. Bei Ehepaaren mit zwei Kindern ist es ähnlich. Während im Osten die Abgaben maximal um 174 Euro steigen, müssen Westdeutsche mit 225 Euro mehr rechnen. Hat das Paar keine Kinder, steigen die Abgaben sogar auf maximal 251 Euro (West) und 196 Euro (Ost)." [2]

Mit anderen Worten: Alle Arbeitnehmer, die momentan weniger als 3.937,50 Euro verdienen, müssen keinen einzigen Cent mehr bezahlen. Die große Mehrheit also. Und das, was man oberhalb dieser Grenze mehr bezahlt, ist im Grunde kaum der Rede wert: Der westdeutsche kinderlose Single mit einem Monatseinkommen von 4.000 Euro zahlt pro Monat gerade mal 3,72 Euro zusätzlich in die Sozialkassen ein, der mit einem Monatseinkommen von 5.500 Euro ganze 6,08 Euro. Beim westdeutschen Ehepaar ohne Kinder sind es monatlich maximal 20,92 Euro. Daran wird gewiss kein einziger Besserverdiener zugrunde gehen, denn das sind wirklich Peanuts.

Wozu die Panikmache? Wozu die reißerischen Schlagzeilen? Der Inhalt der Meldungen widerspricht genau besehen den gewählten Überschriften. Erstens sind nur wenige betroffen, keineswegs alle. Zweitens hält sich die Erhöhung in engen Grenzen. Ist es nicht die Aufgabe des Qualitätsjournalismus, die Leserinnen und Leser wahrheitsgetreu zu unterrichten und dabei keinen falschen Eindruck zu erwecken? Was das angeht hat die Presse schon im zurückliegenden Wahlkampf kläglich versagt: Obgleich allenfalls 10 Prozent der Steuerzahler von den Steuerplänen der Grünen betroffen gewesen wären, haben viele Journalisten so getan, als müsste die breite Masse bei einem rot-grünen Wahlsieg schwere Opfer bringen. [3] Das kam schon fast einer Desinformationskampagne gleich. Warum wundert man sich in den Zeitungsverlagen eigentlich darüber, dass die Bereitschaft der Menschen, für diesen miesen Journalismus auch noch Geld zu bezahlen, peu à peu schwindet? Die Presse sägt eigenhändig an dem Ast, auf dem sie sitzt. Vielleicht ist Seriosität ein erfolgversprechendes Geschäftsmodell, mit dem man aus der Masse herausragen kann. Reißerische Schlagzeilen, die nicht halten, was sie versprechen, findet man jedenfalls im Internet zuhauf. Fazit: Wer Qualitätsjournalismus ständig im Munde führt, sollte ihn auch anbieten.

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[1] Haufe.de vom 26.09.2013
[2] Süddeutsche-Online vom 11.10.2013
[3] siehe Zeitungslektüre ist entspannend... vom 06.08.2013