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08. Dezember 2013, von Michael Schöfer
Soziale Selektion


Die Herkunft entscheide über den Bildungserfolg und demzufolge über die spätere berufliche Laufbahn, sagen die einen. So zementiere sich die soziale Stellung innerhalb der Gesellschaft, weil die Kinder der Begüterten später ebenfalls zu den Begüterten gehören. Es fehle an Durchlässigkeit, wird beklagt. Als Lösung schwebt ihnen deshalb u.a. die Gesamtschule vor. Das sei Unsinn, behaupten die anderen. Teile der Union wollen am traditionellen dreigliedrigen Schulsystem mit Haupt-, Realschule und Gymnasium festhalten, es habe sich schließlich bewährt. Jeder erhalte dort entsprechend seiner Leistungsfähigkeit eine Chance, die er bloß nutzen müsse. Die Gesamtschule bringe Nachteile. Überspitzt formuliert: Die Begabten längere Zeit zusammen mit den weniger Begabten lernen zu lassen, behindere den Erfolg von ersteren.

In puncto Durchlässigkeit sprechen die Fakten eine deutliche Sprache: Nach einer Erhebung des Deutschen Studentenwerkes (DSW) "studieren von 100 Kindern aus Akademikerfamilien 77. Von 100 Kindern aus Facharbeiterfamilien sind es hingegen nur 23." [1] Arbeiterkinder sind sicherlich nicht weniger begabt als Akademikerkinder, aber ihnen stehen geringere finanzielle Ressourcen zur Verfügung. Schon allein aufgrund des divergierenden Bildungsniveaus der Eltern sind die Startchancen von vornherein höchst ungleich verteilt. Außerdem spielen Beziehungen beim Berufseinstieg eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Die soziale Mobilität, also die Fähigkeit, sich auf der sozialen Stufenleiter emporzuarbeiten, hat zuletzt stark abgenommen. "Kinder aus ungelernten Haushalten, die in den Jahren 1950 bis 1959 geboren sind, hatten deutlich bessere Aufstiegschancen als solche, die erst 1980 das Licht der Welt erblickten." [2] Der Familienhintergrund prägt den eigenen ökonomischen Erfolg, stellt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung fest: "Die vorliegenden Ergebnisse zeigen anhand neuer methodischer Verfahren, dass der Einfluss des Familienhintergrundes auf individuelle Arbeitseinkommen, Familieneinkommen, Stundenlöhne sowie Bildungserfolg in Deutschland im internationalen Vergleich beachtlich hoch ist: 40 Prozent der Ungleichheit im individuellen Arbeitseinkommen werden durch den Familienhintergrund erklärt. Beim Bildungserfolg liegt der Erklärungsbeitrag der Herkunft sogar über 50 Prozent. Im internationalen Vergleich ist die Chancengleichheit in Deutschland damit auf einem ähnlich niedrigen Niveau wie in den USA (...)." [3]

Wem das alles zu abstrakt ist, der möge sich mit einem schlagenden Beweis aus Japan befassen. Das, was normalerweise nur Plot seichter Hollywood-Komödien ist, nämlich das Vertauschen von Babys im Krankenhaus, fand dort tatsächlich statt und hatte fatale Konsequenzen. Ein Mann wurde vor 60 Jahren kurz nach seiner Geburt vertauscht und wuchs dadurch bei einer armen Witwe auf. "Der vertauschte Bub war das erste leibliche Kind eines wohlhabenden Paares, das später noch drei weitere Söhne bekam. Letztere wuchsen im Überfluss auf und erhielten Privatunterricht. Ihr älterer Bruder hingegen lebte mit seiner vermeintlichen Mutter und deren älteren Söhnen in einer Ein-Zimmer-Wohnung, deren größter Luxus ein Radio war. Später arbeitete er tagsüber in einer Fabrik und lernte nebenbei an der Abendschule. Schließlich wurde er Lastwagenfahrer." [4]

An den Genen, sprich an seiner Begabung, hat es wohl kaum gelegen, dass der Mann bloß Fabrikarbeiter und Lastwagenfahrer wurde. Wäre er stattdessen bei seinen richtigen Eltern aufgewachsen, hätte aus ihm ein angesehener Rechtsanwalt oder ein erfolgreicher Arzt werden können. Aber mit einer armen Witwe als familiärem Hintergrund war ihm trotz Abendschule der soziale Aufstieg verwehrt. Die Herkunft ist also doch entscheidend, wenn es um die Karrierechancen geht. In den meisten Ländern findet die soziale Selektion zu einem Gutteil über das Einkommen und die daraus resultierende gesellschaftliche Stellung der Eltern statt. Ausnahmen, wie zum Beispiel Norbert Blüm (der Sohn eines Kraftfahrzeugschlossers ergreift den Beruf des Werkzeugmachers und bringt es später über den zweiten Bildungsweg zum Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung), bestätigen nur die Regel. Anders ausgedrückt: Wäre Angela Merkel heute Bundeskanzlerin, wenn sie aus einem Arbeiterhaushalt stammen würde (Merkels Eltern waren Akademiker: der Vater Theologe, die Mutter Lehrerin für Latein und Englisch)? Vermutlich nicht. Am Ende wäre sie womöglich sogar in der SPD gelandet und hätte sich für die Gesamtschule stark gemacht. Nur im Nachhinein erkennen wir die Kuriosität dieses Gedankens.

Die Frage ist, ob wir uns mit dem klassischen Auswahlmechanismus (ausschlaggebend ist der Geldbeutel der Eltern) zufrieden geben sollen. Ist es nicht besser, wenn die Begabung der Kinder den Ausschlag gibt? Stichwort Chancengleichheit. Dabei geht es gar nicht darum, die vom Elternhaus her privilegierten Kinder zu benachteiligen, sondern vielmehr darum, die weniger privilegierten Kinder stärker zu fördern. Eigentlich wollte die SPD das Betreuungsgeld, den finanziellen Ausgleich für die Nichtinanspruchnahme einer staatlichen Leistung (Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder unter drei Jahren), abschaffen und das Geld für den Ausbau von Kitas verwenden. Doch in den Koalitionsverhandlungen hat sich CSU-Chef Horst Seehofer durchgesetzt. Das Betreuungsgeld, vulgo die Herdprämie, bleibt. Zur Chancengleichheit stehen im Koalitionsvertrag lediglich ein paar dürre Worte. Das Problem wird uns deshalb noch länger beschäftigen.

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[1] Die Zeit-Online vom 26.06.2013
[2] FAZ.Net vom 01.04.2013
[3] DIW, Wochenbericht 4/2013
[4] Oe24.at vom 28.11.2013