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12. Februar 2014, von Michael Schöfer
Der gewaltige, undurchschaubare bürokratische Apparat


Erinnern Sie sich noch an die unverschämte Art und Weise, mit der ZDF-Moderator Markus Lanz die Linke Sahra Wagenknecht niedergebügelt hat? Wagenknecht sagte am 16. Januar in der Sendung wörtlich: "Wir haben doch seit Jahren erlebt das Spiel, dass nationale Regierungen in Europa ganz bewusst bestimmte Entscheidungen an Brüssel delegieren, weil die unpopulär sind, und dann können sie ihre Hände in Unschuld waschen und sagen 'Ja, Brüssel hat uns ja aufgegeben dieses oder jenes zu machen', nur das ist natürlich Demokratieabbau." Streitpunkt war die Passage aus dem Entwurf des Europawahlprogramms der Linkspartei, in der die EU u.a. als "weithin undemokratischen Macht" bezeichnet wurde. Die Presse hat natürlich ein großes Bohei darum gemacht und das Ganze als absurd zurückgewiesen.

Realität ist freilich: In einer "Hintergrundinformation zu Modul 3 Sekundärrecht der EU" erläutert uns das Europaparlament, wie auf EU-Ebene das Initiativrecht geregelt ist. Darin heißt es: "In der EU hat die Kommission das Recht, die Initiative für den Erlass neuer Rechtsakte zu ergreifen, also Gesetzentwürfe vorzulegen, über die das Europäische Parlament und der Rat abstimmen und entscheiden (Art. 29 4 AEUV). Die Kommission hat dieses Recht als einziges Organ der Union (Art. 17 Abs. 2 EUV)." [1] Da staunen Sie: Zwar wählen wir in diesem Jahr EU-Parlamentarier, die können jedoch im EU-Parlament nicht einmal Gesetzentwürfe einbringen. Dieses Recht hat nämlich nur die EU-Kommission, deren Kommissare wiederum von den Regierungen der EU-Staaten nominiert und vom Europäischen Parlament bestätigt wurden. Vom Volk gewählt sind die Kommissare daher nicht, José Manuel Barroso und Kollegen hat man vielmehr im Hinterzimmer auserkoren.

Das ist grob gesagt ungefähr so, als wäre die Bundesregierung vom Bundespräsidenten ernannt worden und besäße die alleinige Kompetenz, Gesetzentwürfe vorzulegen, während im Bundestag unsere gewählten Volksvertreter warten müssten, bis ihnen Angela Merkel etwas zu Abstimmung vorlegt. Undenkbar, in der EU ist das allerdings bittere Realität. Demokratisch? Wohl kaum, denn in der Europäischen Union geht die Macht nicht vom Volke aus, sondern via EU-Kommission von den nationalen Regierungen. Mit anderen Worten: Die EU ist eindeutig kopflastig, die Willensbildung geht von oben nach unten, anstatt wie in einer richtigen Demokratie üblich von unten nach oben.

Wozu das konkret führen kann, belegt dieses Beispiel: Kaum einer will ihn, schon gar nicht die Verbraucher, aber er kommt wahrscheinlich trotzdem - der Genmais 1507. "Bei einer Abstimmung der EU-Staaten gab es am Dienstag bei deutscher Enthaltung keine ausreichende Mehrheit gegen eine Anbauerlaubnis (…)." [2] Die Betonung liegt auf keine ausreichende Mehrheit GEGEN eine Anbauerlaubnis, es gab aber erstaunlicherweise auch keine Mehrheit DAFÜR. Unter dem Titel "Brüssel paradox" erläutert uns die Süddeutsche das Verfahren: "Letztlich erklärten nur fünf von 28 Ländern ausdrücklich, dafür zu sein: Initiatorin Spanien, Großbritannien, Estland sowie Schweden und Finnland, also zwei nordische Länder, die wegen klimatischer Bedingungen für Maisanbau eher nicht infrage kommen. Aber es gab eben auch keine Mehrheit dagegen, denn Deutschland und drei weitere Länder (Portugal, Belgien, Tschechische Republik) enthielten sich. 19 ist sozusagen weniger als fünf plus vier. Der Grund: Die Stimmengewichtung im Ministerrat bemisst sich an der Größe der Länder, und die Gegner hatten keine 'qualifizierte Mehrheit' beisammen, um die Notbremse zu ziehen." [3]

Übertragen auf den Bundestag bedeutet das: Angela Merkel legt ein Gesetz vor, das der Bundestag nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit ablehnen kann. 55 Prozent sind dagegen = eindeutig die Mehrheit, aber eben nicht die erforderliche qualifizierte Mehrheit. Deshalb tritt das Gesetz in Kraft. Kurios, nicht wahr? In der Tat. Und meiner Auffassung nach undemokratisch, weil so Beschlüsse gegen den erklärten Willen der Mehrheit möglich sind. Und dies ist nur ein Aspekt in dem unendlich komplexen EU-Geflecht. Das Konglomerat in Brüssel ähnelt dem gewaltigen, undurchschaubaren bürokratischen Apparat in Kafkas Roman "Das Schloss". Dass die Bürger diesen weder durchschauen noch billigen, kann man sich denken. Man mag sich darüber streiten, ob die EU "weithin undemokratisch" ist. Demokratisch ist sie jedenfalls nicht.

Sahra Wagenknecht lag also mit ihrer Kritik keineswegs falsch. Und wer sich für eine Weiterentwicklung Europas ausspricht, muss das ändern. Bundesjustizminister Heiko Maas sagte kürzlich, der ADAC müsse vom "vom Kopf auf die Füße gestellt werden". Das Gleiche gilt für die EU. Anders ausgedrückt: Das EU-Parlament braucht alle Rechte einer demokratisch legitimierten Volksvertretung. Das schließt das Initiativrecht selbstverständlich mit ein.

Genau das fordert die Linke in ihrem Programmentwurf zur Europawahl:

"Wir wollen die Europäische Union demokratisieren. Wir wollen eine Europäische Union mit einem starken Europäischen Parlament und mit mehr unmittelbarer Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger. DIE LINKE kämpft für ein Europäisches Parlament, das

- endlich gleichberechtigt mit dem Europäischen Rat entscheidet;
- ein eigenständiges Initiativrecht für Gesetzgebungsvorhaben erhält;
- generell erweiterte Rechte bekommt. Sobald ein Politikbereich in die Kompetenz der Europäischen Union überführt wird, muss das Parlament ein Mitentscheidungsrecht erhalten. Für die bereits vergemeinschafteten Bereiche ist dies nachzuholen;
- die Europäische Kommission und deren Präsidenten wählt.

Wir wollen eine Europäische Union mit demokratischen Institutionen und transparenten Entscheidungsprozessen."

Äußerst peinlich für das ZDF, die Fernsehzuschauer mit einem derart uninformierten Moderator zu konfrontieren.

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[1] European Parliament, PDF-Datei mit 8 kb
[2] Süddeutsche vom 12.02.2014
[3] Süddeutsche vom 12.02.2014