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21. Februar 2014, von Michael Schöfer
Ukraine: Extremisten auf beiden Seiten


Der Widerstand gegen Unrechtsregime ist zweifelsohne legitim, und gegen den Sturz eines Despoten hat gewiss niemand etwas einzuwenden - ausgenommen natürlich der Despot selbst und dessen Günstlinge. Widerstand gegen eine demokratisch gewählte Regierung ist da schon viel problematischer. Sofern sie sich nicht erkennbar ins Unrecht setzt, darf sie nicht gewaltsam gestürzt werden. Demokratisch gewählte Regierungen kann man nämlich nur - ebenso demokratisch - wieder abwählen. Und zwar am Wahltag.

Mohammed Mursi und die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei gingen in Ägypten aus den Wahlen des Jahres 2012 als Sieger hervor. Die Wahlgänge sollen, soweit man das unter den chaotischen Umständen der Arabellion beurteilen kann, fair abgelaufen sein. Der Sturz Mursis, der laut Militär aufgrund des Wunsches der Bevölkerung erfolgt sei, war in meinen Augen nichts anderes als ein gewöhnlicher Militärputsch. Es wäre vielleicht gerechtfertigt gewesen, Mursi und die Muslimbruderschaft abzuwählen, aber nicht, sie gewaltsam von der Macht zu vertreiben.

Die Argumente, die in Bezug auf Ägypten zutreffend sind, verlieren hinsichtlich der Ukraine keineswegs ihre Gültigkeit. Wiktor Janukowitsch, der Präsident der Ukraine, soll korrupt sein. So besitzt etwa Präsidenten-Sohn Oleksander Presseberichten zufolge ein Vermögen von 500 Mio. US-Dollar. [1] Wiktor Janukowitsch ist sicherlich kein lupenreiner Demokrat, andererseits ist er aus den Präsidentschaftswahlen des Jahres 2010 als Sieger hervorgegangen. "In der Stichwahl am 7. Februar 2010 setzte sich Wiktor Janukowitsch mit 49 % gegen Julia Tymoschenko, die 46 % der Stimmen erhielt, knapp durch. Die Ergebnisse entsprachen allen unabhängigen Exit-Polls, die vor der Stimmenauszählung durchgeführt wurden. Auch die Wahlbeobachter der OSZE und weiterer internationaler Beobachtermissionen bewerteten die Präsidentschaftswahlen als den internationalen Standards entsprechend." [2] Ist es also legal, Janukowitsch ohne Abhaltung von Wahlen stürzen zu wollen? Großes Fragezeichen. Wenn er nicht gegen Gesetze verstoßen hat, lautet die Antwort eindeutig nein.

Die ukrainischen Parlamentswahlen des Jahres 2012 werden wesentlich kritischer gesehen, doch die Urteile sind selbst hier zwiespältig: "Die Wahl wird von vielen Beobachtern, Europaabgeordneten, Institutionen, Organisation und Oppositionellen als ein 'Rückschritt' bewertet. In einem Communiqué lässt die OSZE verlautbaren, dass die Bedingungen des Wahlkampfes 'unfair' seien. (…) Polnische Wahlbeobachter in den Oblasten Charkiw, Poltawa und Sumy teilten mit, es habe in den drei oben genannten Gebieten keine Manipulationen oder sonstige Beeinträchtigungen stattgefunden." [3] Die Aussagen der Wahlbeobachter sind uneinheitlich. Was ist nun wahr?

Wie auch immer, Janukowitschs "Partei der Regionen" bekam als stärkste Partei 30 Prozent der Stimmen, die westlich orientierte "Allukrainische Vereinigung Vaterland" von Julia Tymoschenko 25,55 Prozent und die "Ukrainische demokratische Allianz für Reformen" des ehemaligen Boxweltmeisters Vitali Klitschko 13,97 Prozent. Die Partei Janukowitschs hat zusammen mit den Kommunisten (13,18 %) und einigen unabhängigen Abgeordneten die Parlamentsmehrheit. Fazit: Die Ukraine ist ein gespaltenes Land. Ob die in Kiew auf dem Platz der Unabhängigkeit (Maidan) demonstrierende Opposition überhaupt die Mehrheit der Bevölkerung repräsentiert, ist von daher zumindest fraglich. Noch einmal: Der im Westen hofierte Vitali Klitschko hat bei den letzten Wahlen lediglich knapp 14 Prozent bekommen.

Überdies mischen in den Reihen der Demonstranten äußerst dubiose Gestalten mit. Stephan Meuser, Leiter des Ukraine-Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew, sagt, dass auf dem Maidan schwarz-rote Fahnen überwiegen würden, "nationalistische Farben, mit denen man sich in der Ostukraine meist nicht gefahrlos bewegen kann". Es hätten sich mehrere Gruppierungen gebildet, zum Beispiel "Samooborona, das bedeutet Selbstverteidigung, eine Gruppe, die sich während der Proteste formiert hat. Sie steht der rechtsextremen Swoboda-Partei sehr nahe. Dann (...) die Bewegung 'Rechter Sektor', die ursprünglich von zwei Mittelständlern gegründet wurde, um gegen die ihrer Meinung nach ungerechte Steuerpolitik zu protestieren." [4] Wiktor Janukowitsch mag kein lupenreiner Demokrat sein, ob die Opposition diese Bezeichnung verdient, ist aber ebenfalls zweifelhaft. So gesehen muss der Westen aufpassen, wen er in der Ukraine unterstützt.

Offenbar hat man sich nun in Kiew auf vorgezogene Präsidentschaftswahlen, eine Übergangsregierung und eine Verfassungsreform geeinigt. Auch die inhaftierte Oppositionsführerin und früheren Regierungschefin Julia Timoschenko wird vermutlich freikommen. Innenminister Witali Sachartschenko wiederum, den man für die brutalen Polizeieinsätze gegen die Demonstranten in Kiew verantwortlich macht, bei denen es mindestens 77 Tote und zahlreiche Verletzte gab, soll entlassen werden. [5] Trotz des Abkommens wollen Radikale auf dem Maidan den Sturz Janukowitschs erzwingen und drohen an, das Parlament zu stürmen, falls er nicht zurücktritt. Kann gut sein, dass manches, was demnächst in der Ukraine passiert, unter die Rubrik fällt: "Die Geister, die ich rief..."

Wie immer die avisierten Wahlen ausgehen, sie werden an der Spaltung der Ukraine in einen russisch und einen westlich orientierten Landesteil vorerst kaum etwas ändern. Egal wer gewinnt, es kommt anschließend vor allem darauf an, die unterlegene Seite in die politischen Entscheidungen einzubinden und dabei selbstverständlich auch deren Interessen zu berücksichtigen. Das wäre jedenfalls klug. Die extremen Pendelausschläge, bei denen der Sieger alles und der Verlierer gar nichts bekommt, können das Land weder befrieden noch aussöhnen und müssen deshalb unterbleiben. Anders als beim Boxen sind Knockouts in der Politik unerwünscht.

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[1] Neue Zürcher Zeitung vom 21.02.2014
[2] Wikipedia, Präsidentschaftswahlen in der Ukraine 2010
[3] Wikipedia, Parlamentswahl in der Ukraine 2012
[4] Der Standard vom 19.02.2014
[5] Der Standard vom 21.02.2014