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09. November 2014, von Michael Schöfer
Die Milliarden sind da - nur nicht dort, wo sie hingehören


Bröckelnde Eisenbahn- und Autobahnbrücken, Schlaglöcher in den Straßen, bedarfsgerechte Ausstattung von Kitas, Kindergärten, Schulen und Universitäten, menschenwürdige Unterkünfte für Kriegsflüchtlinge, armutsfeste Renten, Beseitigung des Pflegemissstands, Steuererleichterungen für die erodierende Mittelschicht, Qualifizierung für Arbeitslose - Geld könnte der Staat vielerorts verbraten. Und in den genannten Fällen wäre das sogar besonders sinnvoll. Der Bundeswehr fehlt es an modernem Gerät, das vorhandene ist in einem beklagenswerten Zustand, manche sehen deshalb die Abwehrbereitschaft gefährdet. Um der lahmenden Konjunktur auf die Beine zu helfen, will Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble ein Investitionspaket in Höhe von 10 Milliarden Euro auflegen. Er weiß nur noch nicht, woher er das Geld nehmen soll. Vorne und hinten fehlt es an Milliarden. Doch die Milliarden sind da - nur nicht dort, wo sie hingehören.

Die Presseveröffentlichungen der letzten Tage stellen die Steueroase Luxemburg und den langjährigen Ministerpräsident Jean-Claude Juncker (neuerdings Chef der EU-Kommission) an den Pranger. Er habe in seiner Regierungszeit ein System errichtet, mit dessen Hilfe Konzerne aus aller Welt ihre Steuerbelastung fast auf null reduzieren können, heißt es. Ein amerikanisches Kurierunternehmen hat beispielsweise die trickreich nach Luxemburg verschobenen Gewinne angeblich mit nicht einmal 0,1 Prozent versteuert. Das treibt Otto Normalverdiener die Tränen in die Augen. So gut wie alle namhaften Unternehmen sind im Großherzogtum vertreten. Logisch, wer nicht Steuern spart ist - oberflächlich betrachtet - der Dumme. Firmendependancen, über die Milliarden fließen, haben nicht einmal Angestellte, sondern besitzen lediglich einen Briefkasten. Anscheinend genügt das in Luxemburg vollkommen.

Doch es gibt zum Glück auch Ausnahmen, nicht alle Mitglieder der oberen Zehntausend sind egoistisch und undankbar: "Joanne K. Rowling hat es einmal schön zusammengefasst. Die Autorin der Harry-Potter-Reihe war arbeitslos, bevor die Bestseller sie zur Multimillionärin machten. 'Ich hätte die Bücher nicht schreiben können, wenn der Staat nicht meinen Lebensunterhalt finanziert hätte', erzählte sie im amerikanischen Fernsehen. Dafür sei sie bis heute dankbar - und das sei der Grund, warum sie nicht in Monaco wohne. 'Ich zahle jede Menge Steuern. Das schulde ich dem Staat.'" [1] Respekt, Respekt! Banale Erkenntnis: Reichtum ist nicht per se schlecht, es kommt bloß darauf an, woher er stammt und was man mit ihm macht.

Die Empörung über die "Luxemburg Leaks" schlägt hohe Wellen. Zu Recht, denn was uns da geboten wird, ist schon ein dreistes Bubenstück. Erst retten wir mit unseren Steuergeld die Finanzindustrie - bloß um dann festzustellen, dass sie bei der Steuervermeidung äußerst kreativ und ihrer vermögenden Kundschaft gegenüber wahnsinnig hilfsbereit ist. In den südlichen Krisenstaaten der Eurozone leiden die Menschen unter hoher Arbeitslosigkeit, während sich die Herren in den Vorstandsetagen nach wie vor ein Leben in Saus und Braus gönnen: Satte Gehälter, hohe Pensionsansprüche und üppige Abfindungen. Zum Ausgleich darf man sich dann auf Arbeitgeberkongressen anhören: Mindestlohn ist igitt, Rente mit 63 ist bäh. Die lukrativen Steuersparmodelle übergehen sie allerdings geflissentlich. Nehmen ist eben doch seliger als Geben. Und sollte die Bundeswehr je in die Verlegenheit kommen, Deutschland oder irgendeinen Bündnispartner verteidigen zu müssen, dürfen sich die Soldaten bei den Konzernen für fehlendes bzw. kaputtes Gerät bedanken. Die Konzernverantwortlichen brauchen ja auch im Ernstfall nicht ihren Kopf hinhalten, das sind - wie gehabt - immer nur die Kleinen. Ich bin felsenfest davon überzeugt, die Soldaten werden für unsere Steuervermeidungsstrategien... äh... Werte notfalls ihr Leben hingeben.

Klaus Zumwinkel, Alice Schwarzer und Uli Hoeneß sind zwar allseits bekannt, aber im Grunde kleine Fische. Vergleichsweise, versteht sich. Nach Angaben von Gabriel Zucman, französischer Juniorprofessor an der renommierten London School of Economics, liegen 5.800 Mrd. Euro auf  Schwarzgeldkonten von Steueroasen, davon sollen 4.700 Mrd. steuerlich nicht deklariert sein. Jährlich entgehen deshalb den Staaten 130 Mrd. Euro an Steuereinnahmen. Deutsche haben Zucman zufolge rund 360 Mrd. Euro illegal im Ausland angelegt. [2] Wie war das nochmal? Mindestlohn ist igitt, Rente mit 63 ist bäh? Richtig! Und ein Viertel der Beschäftigten in Deutschland arbeitet im Niedriglohnsektor? Egal. Es triumphiert die Sichtweise: "Eure Armut kotzt mich an!" Man muss dafür seinen Zynismus nur bis an die Grenzen treiben, was freilich vielen spielend gelingt.

"Gegen Betrüger. Gegen Trickser. Für Gerechtigkeit. Das ist unsere Steuerpolitik. Steuerhinterziehung ist kriminell und wird konsequent bekämpft", ließ kürzlich Hessens Finanzminister Dr. Thomas Schäfer (CDU) großspurig verlauten. [3] Doch bei den besagten Luxemburger Steuertricks geht es nicht einmal um illegale Steuerhinterziehung, sondern "bloß" um legale Steuervermeidung. Die Konzerne betonen, alles sei rechtmäßig. Das stimmt womöglich. "Dieser Spuk muss so schnell wie möglich aufhören", tönt Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel. [4] Vorausgesetzt, bei den Steuertricks in Luxemburg geht es tatsächlich juristisch korrekt zu, dann stellt sich logischerweise die naheliegende Frage: Wer hat denn die Steuergesetze gemacht, die so etwas ermöglichen? Haben die Politiker davon wirklich nichts gewusst und fallen jetzt aus allen Wolken? Oder haben sie das Ganze insgeheim gebilligt? Es gibt zwei Antworten: Entweder die Regierungen sind inkompetent, weil es ihnen nun plötzlich wie Schuppen von den Augen fällt. Oder sie haben das Volk bis dato rotzfrech belogen.

Das ist der eigentliche Skandal: Dass es bei uns Arbeitnehmern stets heißt, wir müssten den Gürtel noch enger schnallen. Stichwort: Strukturreform zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit. Wobei damit selbstverständlich immer nur Sozialabbau gemeint ist (Aufweichung des Kündigungsschutzes, Kürzung der Rente, Erhöhung des Rentenalters, Ausweitung des Niedriglohnsektors, Einsparungen bei der Sozialhilfe etc.). Mit Blick auf die Firmen sagt man hingegen lapidar, das Kapital sei halt ein scheues Reh. Und dem scheuen Reh greift man mit entsprechenden Gesetzen gerne unter die Arme. Bis der ganze Unfug dummerweise in der Presse auftaucht... Schade, dass man den Überbringer schlechter Nachrichten nicht mehr, wie weiland in der Antike, kurzerhand hinrichten darf. (Achtung: Ironie!)

Doch die Henker haben längst Ersatz gefunden: In Deutschland legen immer nur "kleine Spartengewerkschaften" das ganze Land lahm, zum Glück - bröckelnde Autobahnbrücken hin oder her - nie Großunternehmen mit ihren dubiosen Steuertricks. Da mutiert das 61 Quadratmeter kleine Häuschen von GDL-Chef Claus Weselsky in den Medien schon einmal zum exklusiven Wohnsitz, während die Presse die pompösen Villen der Steuerprofiteure einfach links liegen lässt. Probe aufs Exempel gefällig? Die Dokumente über die Steuervermeidung in Luxemburg stammen von der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft Pricewaterhouse Coopers (PwC). Kennen Sie die Namen der Vorstandsmitglieder? Wahrscheinlich nicht. Und wissen Sie, wo und wie die wohnen? Vermutlich ebenso wenig. Aber darüber, wo und wie hierzulande ein Gewerkschaftsvorsitzender wohnt, wissen Sie mittlerweile Bescheid. Sehen Sie, genau das nenne ich ein sonderbares Missverhältnis.

Hinweis zum Schluss, Offenlegung der persönlichen Verhältnisse: Der Autor dieser Zeilen lebt in einer palastartigen Zweiraum-Wohnung mit einer Grundfläche von 64 Quadratmetern (4. Obergeschoss ohne Fahrstuhl, aber mit Gasofenheizung). Er weigert sich beharrlich, seine Vermögenswirksamen Leistungen gewinnbringend in die Schweiz oder nach Luxemburg zu transferieren. "Wenn ich mit meinem ordentlich versteuerten Sparvertrag verhindere, dass Putin innerhalb von 48 Stunden bis zum Rhein vorstoßen kann, fällt mir der Verzicht auf ein lukratives Steuersparmodell leicht. Ich habe deshalb sämtliche Angebote, die mir von führenden Beratungsgesellschaften unterbreitet wurden, konsequent abgelehnt."

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[1] Süddeutsche vom 07.11.2014
[2] Süddeutsche vom 14.07.2014
[3] Hessisches Ministerium der Finanzen, Pressemitteilung vom 06.11.2014
[4] Süddeutsche vom 06.11.2014