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14. Februar 2015, von Michael Schöfer
Das Minsker Abkommen ist der Lackmustest


Dass sich Russland von der näher rückenden Nato bedroht fühlt? Geschenkt! Dass in der Ukraine zum Teil höchst zweifelhafte Elemente am Werk sind? Ebenfalls geschenkt! Natürlich soll und darf man das Wirken des Westens in der Ukraine-Krise hinterfragen, dessen möglicherweise unlautere Motive offen kritisieren. Kritik ist in einer Demokratie gewissermaßen das Salz in der Suppe. Aber ungeachtet dessen verwundert es immer wieder aufs Neue, wie verbissen manche glauben, Russland und Wladimir Putin verteidigen zu müssen. Warum eigentlich?

Der Präsident des Riesenreichs ist ein Autokrat, der Kritiker gerne mithilfe der keineswegs unabhängigen russischen Justiz mundtot macht. Kremlkritiker Alexei Nawalny wurde kürzlich wegen Unterschlagung zum Nachteil des französischen Kosmetikkonzerns Yves Rocher schuldig gesprochen. Allerdings beteuert selbst das angeblich geschädigte Unternehmen, ihm sei kein Schaden entstanden. Für das Urteil war das freilich vollkommen irrelevant. Nichtregierungsorganisation werden als "ausländische Agenten" verunglimpft, Oppositionelle verschwinden jahrelang im Arbeitslager. Russland diskriminiert Homosexuelle, Pressefreiheit ist ein Fremdwort. Und Menschen mit nicht konformen Lebensweisen (Transsexuelle, Fetischisten, Voyeure, Exhibitionisten, Kleptomanen, Spielsüchtige) dürfen dort neuerdings noch nicht einmal mehr den Führerschein machen bzw. einen solchen besitzen. Putin trachte seinen Gegnern manchmal sogar nach dem Leben, unterstellen ihm bislang unbewiesene Gerüchte. So wird zum Beispiel gemutmaßt, die Auftraggeber der Morde an Anna Politkowskaja und Alexander Litwinenko seien hinter den Kremlmauern zu finden. Kurios: Einige, die hierzulande Angela Merkel oder Barack Obama für gewöhnlich schonungslos in den Senkel stellen, verhalten sich Putin gegenüber sonderbar nachsichtig.

Als Nato-Mitglieder und deren Verbündete im Herbst letzten Jahres in der Westukraine und im Schwarzen Meer Militärmanöver abhielten, wurde das zu Recht als unnötige und gefährliche Provokation kritisiert. An der Übung "Rapid Trident" in der Westukraine nahmen rund 1.300 Soldaten aus 15 Staaten teil, am dreitägigen Seemanöver "Sea Breeze" beteiligten sich Kriegsschiffe der USA, der Ukraine, Kanadas, Rumäniens, Spaniens und der Türkei. Als Russland kurz vor dem Minsker Gipfel in Südrussland ein Manöver mit 2.000 Soldaten und auf der Krim eines mit 600 Soldaten begann, hörte man von den sonst lautstarken Nato-Kritikern kein einziges Wort. Russlands ebenso unnötige und gefährliche Provokation wurde einfach übergangen. Ganz so, als sei sie gar nicht passiert. Überspitzt formuliert: Öl gießt immer nur die Nato ins Feuer, Russland nie. Gelogen wird ausschließlich westlich des Dnepr, östlich davon stößt man stets auf die reine Wahrheit.

Apropos Gipfel: Merkel wird ja normalerweise gezielte Untätigkeit vorgeworfen, handelt sie aber urplötzlich energisch, wie bei den - auf ihre und François Hollandes Initiative hin zustande gekommenen - Minsker Friedensbemühungen, steckt bestimmt etwas Böses dahinter. Einmal legt man ihre Taktik der Zurückhaltung als bewusste Nicht-Inszenierung aus, ein andermal heißt es, sie wolle sich mit ihren Aktivitäten lediglich profilieren. Kurzum, sie kann es keinem recht machen. Überhaupt: Egal was passiert, Schuld hat immer der Westen. Behaupten zumindest jene, die ständig über ihre vorgefassten Meinungen stolpern. Letztere tun sich durch ihre offenkundige Einseitigkeit keinen Gefallen, denn wer zu Obama A sagt, muss zu Putin auch B sagen. Alles andere schadet bloß der eigenen Glaubwürdigkeit.

Doch lieber loben sie den russischen Außenminister Sergej Lawrow, der auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Kritik an der Annexion der Krim zurückwies: "Was auf der Krim passiert ist, war die Ausübung des Rechtes auf Selbstbestimmung gemäß UN-Charta." [1] Dass Russland die Krim annektiert habe, sei ohnehin ein Mythos, springen ihm hiesige Kritiker des Westens bei. Russland habe die Halbinsel nämlich nicht gewaltsam erobert, sondern vielmehr einen Antrag der Bevölkerung angenommen. Gemeint ist das Referendum über den Status der Krim, bei dem sich angeblich 96,77 Prozent für den Anschluss an Russland aussprachen. Klingt nach einem gähnend langweiligen bürokratischen Akt. Völlig harmlos also. Die Welt kann so einfach sein.

Ist folglich alles in Ordnung? Von wegen, denn Lawrow glaubt das bestimmt selbst nicht. Man stelle sich vor: Plötzlich besetzen schwerbewaffnete "grüne Männchen" ohne Nationalitätskennzeichen, die sich im Nachhinein als japanische Soldaten entpuppen, die vier Inseln Kunaschir, Iturup, Schikotan und Chabomai. (Hinweis: Die zu den Südlichen Kurilen zählenden Inseln gehörten bis 1945 zu Japan und wurden nach dem Zweiten Weltkrieg von der Sowjetunion annektiert. Deren Status ist seitdem umstritten.) Unter dem Schatten von Sturmgewehren und Radpanzern findet eine Abstimmung statt, deren Durchführung und Ausgang keiner unabhängigen Kontrolle unterliegt. Von der juristischen Legitimität ganz zu schweigen. Und mit einem wahrhaft sozialistischen Traumergebnis von nahezu 100 Prozent stimmen die Inselbewohner, so behaupten jedenfalls hinterher die japanischen Invasoren, für die Wiedervereinigung mit Japan. Würde Lawrow das ebenfalls als "Ausübung des Rechtes auf Selbstbestimmung gemäß UN-Charta" bezeichnen. Vermutlich nicht. Merke: Das Recht auf Selbstbestimmung gilt nur dort, wo es einem in den Kram passt. Dass der Westen oft genauso machiavellistisch handelt, schwächt die Kritik am russischen Vorgehen um keinen Deut. Unrecht wird bekanntlich nicht durch anderes Unrecht entschuldigt.

Das Minsker Abkommen vom 12. Februar 2015 ist der Lackmustest. Für beide Seiten, wohlgemerkt. Scheitert der Waffenstillstand und die Truppenentflechtung an den Separatisten, liefert ihnen Russland gar weiterhin Waffen und unterstützt sie insgeheim mit Soldaten, kann man die Bemühungen, mit dem Kreml den Konflikt lösen zu wollen, vorerst einstellen. Es hat wenig Sinn, mit Putin Abkommen auszuhandeln, die kurz nach der Unterzeichnung, kaum ist die Tinte trocken, bereits Makulatur sind. In diesem Fall sind härtere Sanktionen unausweichlich. Und die Nato wird wohl kaum darum herumkommen, ihre Verteidigung in Europa künftig besser zu organisieren.

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[1] tagesschau.de vom 07.02.2015