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14. Mai 2015, von Michael Schöfer
Diese Haltung entbehrt nicht eines gewissen Zynismus


Dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) zufolge sind derzeit weltweit ca. 45,2 Mio. Menschen auf der Flucht. Und obgleich davon nur ein Bruchteil Europa erreicht, steigen hier die Flüchtlingszahlen dramatisch an. Nach Angaben des UNHCR wurden 2014 in den 28 EU-Mitgliedstaaten insgesamt 570.800 Asylanträge registriert, das sind 44 Prozent mehr als im Jahr zuvor. [1] Vom Zustrom betroffen sind insbesondere Mittelmeeranrainer wie Italien, die sich überfordert fühlen (und es wegen der mangelnden Solidarität der übrigen EU-Staaten auch tatsächlich sind).

Historisch betrachtet waren große Flüchtlingsströme, ob aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen, selten unproblematisch. So wird beispielsweise die Völkerwanderung (375 - 568) gemeinhin für den Untergang des durch innere Verwerfungen ohnehin geschwächten Weströmischen Reiches verantwortlich gemacht. Zu Recht wird häufig darauf hingewiesen, dass die Vereinigten Staaten oder Australien eine Gesellschaft von Migranten sind. Man sollte aber der Vollständigkeit halber auch erwähnen, dass der Zustrom von Europäern den dortigen Ureinwohnern denkbar schlecht bekommen ist. Andererseits hat sich die ethnische Durchmischung in Europa als äußerst segensreich für die kulturelle Entwicklung erwiesen. Die Erfahrung zeigt: Isolierte Nationen (z.B. Japan zwischen 1630 und 1853) hinken oft der technologischen Entwicklung hinterher. Isolationismus, so wünschenswert er einigen auf den ersten Blick erscheinen mag, ist weder durchsetzbar noch vorteilhaft. Insofern kann man den Zuzug von Flüchtlingen sowohl als Bedrohung als auch als Bereicherung interpretieren. Jede Medaille hat zwei Seiten.

Europa, eine der reichsten Regionen der Erde, ist, was die Aufnahme von Flüchtlingen angeht, vergleichsweise zurückhaltend. So leben laut UNHCR von den nahezu vier Millionen syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen 1,76 Mio. in der Türkei, 1,18 Mio. im Libanon und 0,63 Mio. in Jordanien. Zwischen April 2011 und Mai 2015 fanden ganze 253.000 (= 6,4 %) Zuflucht in Europa. Beschämend. Dabei ist es schon ein Gebot der Humanität, politisch Verfolgten Asyl zu gewähren. Und politisch Verfolgte gibt es auf der Welt wahrlich mehr als genug. Hinzu kommen diejenigen, die aus ökonomischen Gründen ihre Heimat verlassen. Theoretisch für das von Überalterung bedrohte Europa ein Segen, praktisch aufgrund eklatanter Bildungslücken keine einfach zu bewältigende Aufgabe.

2013/2014 unternahm die italienischen Marine die Operation Mare Nostrum zur Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer. Doch die EU hat Italien mit den Flüchtlingen und den Kosten der Rettungsaktion (monatlich 9,3 Mio. Euro) weitgehend allein gelassen. Seit November 2014 läuft als Ersatz die Operation Triton, die zwar mit 2,9 Mio. Euro wesentlich weniger kostet, sich jedoch auf die Überwachung der küstennahen Bereiche unseres Kontinents beschränkt. Als im April vor der libyschen Küste ein Flüchtlingsboot kenterte, wobei rund 1.000 Menschen ertranken, wurde allen klar, dass Triton absolut unzureichend ist. Triton ist lediglich eine Abwehrreaktion, keine Rettungsaktion. Man hoffte, dass sich angesichts der größeren Risiken weniger Flüchtlinge aufs Meer trauen. Diese Annahme war offensichtlich falsch. Manche behaupten, die EU habe insgeheim auf die abschreckende Wirkung von Flüchtlingskatastrophen gesetzt, mithin in ihrer Strategie bewusst die zahlreichen Ertrinkenden einkalkuliert.

Nun, nachdem das Scheitern dieser Strategie deutlich geworden ist, kommt die Europäische Union auf die befremdliche Idee, mit Waffengewalt gegen die Menschenschlepper an Libyens Küste vorgehen zu wollen. Dazu bemüht sie sich um ein Mandat des UN-Sicherheitsrates, Schiffe und Infrastruktur der Menschenhändler sollen unbrauchbar gemacht werden. Die EU beruft sich dabei auf Kapitel VII der UN-Charta. Allein der Bezug auf die UN-Charta lässt aufhorchen. Unter Kapitel VII fallen nämlich Bedrohungen oder der Bruch des Friedens sowie Angriffshandlungen, es geht darin folglich um die Bewahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Die EU biegt sich das Völkerrecht so zurecht, wie sie es gerade braucht. Die Flüchtlinge mögen unwillkommen und eine ökonomische Belastung sein, das Wirken der profitorientierten Schlepperorganisationen sogar verwerflich, doch wird dadurch wirklich der Weltfrieden bedroht? Kommt das einer Angriffshandlung gleich, auf die man mit Waffengewalt reagieren darf? Sorry, das ist total überzogen und m.E. wegen des fehlenden Tatbestands auch unzulässig. Außerdem: Wie wollen die EU-Soldaten zwischen Schlepperschiffen und Fischerbooten unterscheiden? Oder nimmt man erneut, Hauptsache es schreckt ab, "Kollateralschäden" billigend in Kauf?

Flüchtlinge sind, betrachtet man die Zustände, vor denen sie flüchten, Folge der Bedrohung des Weltfriedens durch schlimme Bürgerkriege oder brutale Diktaturen, aber nicht deren Verursacher. Das Gleiche gilt, ohne sich damit auf deren Seite zu stellen, für die Schlepperorganisationen. Letztere nutzen lediglich eine ihnen sich bietende Einnahmequelle, haben aber die Bedingungen, unter denen die Einnahmequelle entstand, nicht geschaffen. Wollte die EU mit einem Mandat nach Kapitel VII der UN-Charta gegen die Bedrohung des Weltfriedens vorgehen, müsste sie deshalb die Fluchtursachen bekämpfen, also beispielsweise undemokratische Regime stürzen. Von der Herstellung einer gerechten Weltwirtschaftsordnung, die Armut und Ausbeutung beseitigt, ganz zu schweigen.

Der letzte Rüstungsexportbericht der Bundesregierung (2013) hinterlässt allerdings diesbezüglich einen bitteren Nachgeschmack: [2] Deutschland hat 2013 Kriegswaffen im Wert von 562,5 Mio. Euro an Entwicklungsländer geliefert. An sogenannte Drittländer (weder EU- noch NATO-Mitglied oder der NATO gleichgestellt) wurden Ausfuhrgenehmigungen im Wert von 3,6 Mrd. Euro erteilt. Am Gesamtwert der Einzelgenehmigungen in Höhe von 5,8 Mrd. Euro hatten die Entwicklungsländer einen Anteil von 10, die sogenannten Drittländer einen Anteil von 52 Prozent. Tendenz: steigend. 5.169 der insgesamt 17.949 Einzelgenehmigungen betrafen Handfeuerwaffen - also die wahren Massenvernichtungswaffen unserer Zeit. Ihnen fallen, zumal in den Entwicklungsländern, die allermeisten Menschen zum Opfer. Handfeuerwaffen sind die Waffenkategorie, die sich am schwersten kontrollieren lässt. Sie sind relativ kostengünstig, leicht verfügbar, leicht zu transportieren, zu schmuggeln und zu verbergen, resistent gegen Schmutz und Korrosion, extrem wartungsarm und langlebig. [3] 2013 erreichten die Waffenexporte Deutschlands übrigens einen Rekordwert.

Die Behauptung, mit unserer Wirtschafts- und Waffenexportpolitik würden wir die Flüchtlingsströme, gegen die die EU demnächst an Libyens Küste vorzugehen gedenkt, zumindest mitverursachen, ist daher kaum von der Hand zu weisen. Sehen wir es realistisch: Der Westen hat naturgemäß Interessen, die er überall auf der Welt vertritt. Politische, ökonomische, militärische. Mit den negativen Folgen dieser Interessen will er aber nichts zu tun haben. Diese Haltung entbehrt nicht eines gewissen Zynismus. Das humanistische Gefasel ist bloß Fassade fürs geneigte Publikum, in Wahrheit dominiert eine knallharte Abschottungspolitik. Deshalb schießen wir lieber auf die Schlepperboote an Libyens Küste anstatt die eigentlichen Fluchtursachen zu beseitigen. Gewiss, unsere Kraft, die globalen Verhältnisse zu ändern, ist begrenzt, aber nicht so wirkungslos, wie man uns für gewöhnlich suggeriert.

Ich würde gerne mit einer guten Nachricht schließen, doch das fällt angesichts der Tatsachen äußerst schwer. Schlägt nämlich der Treibhauseffekt erst richtig durch, werden die Flüchtlingsströme gewaltig anwachsen. Wir reden dann nicht mehr über Millionen, sondern womöglich über Milliarden. Und da fehlt mir ehrlich gesagt die Phantasie, wie wir diese fast unvermeidbar auf uns zukommende Herausforderung auf humane Art und Weise bewältigen, wenn wir schon heute zu höchst zweifelhaften Methoden greifen. Der Ton wird rauer: In der größten britischen Zeitung, dem Boulevardblatt "The Sun", schrieb kürzlich eine Kolumnistin: "Macht euch nichts vor: Diese Migranten sind wie Kakerlaken." Die Fliehenden im Mittelmeer seien "Streuner", die man mit vorgehaltener Waffe zurückschicken und ihre Boote verbrennen müsse. "Rettungsboote? Ich würde Kanonenboote einsetzen, um illegale Migranten zu stoppen", hieß es dort. [4] Das ist sicherlich eine Minderheitsmeinung. Fragt sich nur, wie lange noch. Irgendwann wird man vielleicht, selbstverständlich mit Verweis auf Kapitel VII der UN-Charta, es muss ja schließlich alles seine Ordnung haben, auf Flüchtlingsboote schießen. Auf vollbesetzte, wohlgemerkt. Der Firnis der Zivilisation ist bekanntlich ziemlich dünn.

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[1] UNHCR, Asylum Trends 2014, PDF-Datei mit 3,3 MB
[2] Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, PDF-Datei mit 886 kb
[3] Bundeszentrale für politische Bildung, Kleinwaffen - die wahren Massenvernichtungswaffen
[4] taz vom 21.04.2015