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04. Juni 2015, von Michael Schöfer
Kinder gibt's doch eigentlich viel zu viele


Kürzlich geisterte abermals eine vermeintliche Horrormeldung durch die Gazetten: Deutschland sei inzwischen, was die Geburtenrate angeht, weltweit das Schlusslicht. Pro 1.000 Einwohner gäbe es hierzulande bloß 8,28 Geburten, die Bevölkerung könnte demnach - je nach Zuwanderungsszenario - bis 2050 auf 65 Millionen schrumpfen. Davon sei hauptsächlich die Wirtschaft betroffen, der es schon bald an Fachkräften mangele und in absehbarer Zeit auch an Konsumenten fehle.

Paradoxerweise wird in Bezug auf Deutschland die Diskussion genau umgekehrt geführt, wie in Bezug auf die Entwicklung der Weltbevölkerung. Waren wir uns nicht längst einig darüber, dass es a) schon genug Kinder auf der Welt gibt und dass b) eine hohe Kinderzahl ökonomisch schädlich ist?

Die größte Bedrohung der Menschheit ist nämlich ihr eigenes exponentielles Wachstum.

Anstieg der Weltbevölkerung [1]
Jahr Anzahl in Milliarden
0 0,3
1000 0,31
1250 0,4
1500 0,5
1750 0,79
1800 0,98
1850 1,26
1900 1,65
1950 2,53
1960 3,03
1970 3,69
1980 4,45
1990 5,32
2000 6,13
2010 6,92
2020 7,72
2030 8,42
2040 9,04
2050 9,55
2060 9,96
2070 10,28
2080 10,52
2090 10,72
2100 10,85



Momentan steigt die Weltbevölkerung jedes Jahr um 81 Mio. Menschen an - pro Sekunde sind das 2,6 Menschen mehr. [2] Jährlich kommt also gewissermaßen ein Deutschland (zur Zeit 81,1 Mio. Einwohner) neu hinzu. Dabei benötigten wir schon jetzt mehr als zweieinhalb Planeten, um den gegenwärtigen Durchschnittsverbrauch der Menschheit mit den natürlichen Ressourcen in Einklang zu bringen. Nimmt man den Lebensstil in der Europäischen Union zum Maßstab, wären es 4,7 Planeten. Nimmt man den Lebensstil der Nordamerikaner zum Maßstab, wären es sogar 6,2 Planeten. [3] Wir haben aber bloß einen einzigen zur Verfügung. Die Erkenntnis, dass dies unabwendbar zu einem ökologischen Kollaps führen muss, ist keineswegs neu. Dennoch wird so getan, als seien weniger Kinder in Deutschland eine Katastrophe. Das Gegenteil ist richtig.

Dass viele Kinder, gerade unter ökonomischen Gesichtspunkten, ein Fluch sind, belegt die Weltrangliste. Die ersten zehn Länder mit der höchsten Geburtenrate sind: Niger (46,12 Geburten auf 1.000 Einwohner), Mali (45,53), Uganda (44,17), Sambia (42,46), Burkina Faso (42,42), Burundi (42,33), Malawi (41,80), Somalia (40,87), Angola (38,97) und Afghanistan (38,84). [4] In den meisten gibt es massive Konflikte, aus vielen flüchten die Menschen vor der grassierenden Armut (ein Teil von ihnen übers Mittelmeer bis nach Europa).

Nun kann man diese Situation natürlich nicht mit der in Deutschland vergleichen, denn hier wäre man schon froh, wenn die Fertilitätsrate ausreichen würde, um den Bevölkerungsstand wenigstens einigermaßen zu halten. Rechnerisch müssten dazu 2,1 Kinder pro Frau geboren werden. In Deutschland sind es aber nur 1,42 Kinder. [5] Gleichwohl spielt Deutschland, was den Trend angeht, nur den Vorreiter. Andere haben die Entwicklung noch vor sich.

In der Volksrepublik China beispielsweise betrug die Fertilitätsrate im Jahr 1970 5,5 Kinder pro Frau, heute sind es lediglich 1,6 Kinder. Derzeit leben in China 1,364 Mrd. Menschen, im Jahr 2050 werden es voraussichtlich 1,312 Mrd. sein (angesichts der horrenden Umweltverschmutzung und des exorbitanten Ressourcenverbrauchs ein absolut notwendiger Trend). [6] Mit anderen Worten: Das, was die Bundesrepublik gegenwärtig durchmacht, wird in ein paar Jahrzehnten auch auf China zukommen: schrumpfende Bevölkerung, Änderung der Alterspyramide. Die deutschen Probleme sind folglich keine singulären. Wenn wir den Planeten vor dem Kollaps bewahren wollen, muss die Geburtenziffer vielmehr weltweit drastisch sinken.

Die Probleme, die dadurch verursacht werden, sind durchaus überwindbar. Wir müssen dazu bloß die Finanzierung des Sozialsystems umstellen. Vereinfacht ausgedrückt: Wenn im Jahr 2050 die um 20 Prozent geschrumpfte Bevölkerung Deutschlands 20 Prozent mehr erwirtschaftet, hat sich das ökonomische Problem schon in Luft aufgelöst. 20 Prozent in den nächsten 35 Jahren sind keine besonders hohe Hürde (in den vergangenen 25 Jahren waren es rund 33 Prozent). Die Renten müssen stets im jeweiligen Jahr aufs Neue erwirtschaftet werden. Bei schrumpfender Bevölkerung und einem ungünstigen demographischen Aufbau (mehr unproduktive Alte, weniger erwerbsfähige Junge) ist das nur dann ein Problem, solange wir auch bei der bisherigen Beitragsfinanzierung durch die Arbeitnehmer bleiben. Doch die Finanzierungsgrundlage der Rente kann man ja ändern. Was spricht etwa gegen eine Wertschöpfungsabgabe? Müssen wir auch im 21. Jahrhundert unbedingt an den Finanzierungsgrundsätzen der Bismarckschen Rentenversicherung aus dem Jahr 1889 festhalten?

Fazit: Auf diesem Planeten gibt es schon viel zu viele Kinder. Wenn die Menschheit überleben will, muss sie ihr exponentielles Wachstum möglichst rasch in einen Schrumpfungsprozess umkehren. Die Probleme, die durch letzteren verursacht werden, sind im Vergleich zu den Auswirkungen eines weiterhin ungehemmten Bevölkerungsanstiegs geradezu harmlos. 65 Millionen Deutsche im Jahr 2050? Selbst wenn es wirklich so käme (Prognosen sind bekanntlich schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen), ist das beileibe kein Unglück. Wir brauchen nur etwas Phantasie und die dafür notwendige Änderungsbereitschaft. Darauf zu hoffen, dass - warum auch immer - die Deutschen plötzlich wieder mehr Kinder in die Welt setzen, ist ohnehin illusorisch. Und wir können die Menschen schließlich nicht dazu zwingen.

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[1] Statista, Hinweis: ab 2030 Prognose der Vereinten Nationen
[2] Stiftung Weltbevölkerung, Die Weltbevölkerungsuhr
[3] Wikipedia, Ökologischer Fußabdruck
[4] Lexas Information Network, Geburtenrate
[5] Lexas Information Network, Zusammengefasste Fruchtbarkeitsrate
[6] Stiftung Weltbevölkerung, Länderdatenbank