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13. August 2015, von Michael Schöfer
Fluchtursachen nicht außer Acht lassen


Genau vor 54 Jahren wurde die Berliner Mauer errichtet, sie hatte eine Gesamtlänge von rund 160 km. Kurioserweise würden heute viele in Europa gerne wieder Mauern errichten - und zwar gegen die Flüchtlinge. Doch im Mittelmeer hätte nicht einmal Walter Ulbricht eine Mauer bauen können.

Nun ist das Problem mit wachsenden Flüchtlingszahlen gewiss kein kleines, aber Europa kann sich nun mal nicht völlig den Zerfallserscheinungen im Nahen Osten und in Afrika entziehen. Fakt ist, dass von den laut UNHCR weltweit 59,5 Mio. Flüchtlingen nur ein Bruchteil überhaupt in Europa ankommt. 2014 stellten in den 28 EU-Mitgliedstaaten 562.265 Flüchtlinge einen Erstantrag auf Asyl. [1] Die Europäische Union hat 507 Mio. Einwohner, und angesichts dessen ist es wahrlich eine Schande, wie unvorbereitet und zum Teil dilettantisch die EU auf diesen vergleichsweise kleinen Flüchtlingsstrom reagiert. Es gibt Regionen mit viel kleinerer Einwohnerzahl und erheblich geringerer Wirtschaftskraft, die Millionen aufnehmen müssen.

Dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zufolge wurden in Deutschland im vergangenen Jahr 173.072 Erstanträge auf Asyl gestellt, davon entfielen 22,7 Prozent, also nahezu ein Viertel, auf Flüchtlinge aus Syrien. [2] Angesichts der Zustände in dem Bürgerkriegsland dürften kaum Zweifel bestehen, dass diese Asylanträge berechtigt sind.

Nun ist ja nicht alles, was von den Arbeitgeberverbänden kommt, von vornherein schlecht. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger sagt: "Wir brauchen endlich ein modernes Zuwanderungsgesetz. Eine Nation sollte ruhig sagen dürfen, was sie gerade braucht." Er sprach sich "für eine klare Unterscheidung zwischen den asylsuchenden Flüchtlingen, 'die in ihrer Heimat um Leib und Leben fürchten' und Wirtschaftsflüchtlingen aus. 'Wir müssen bewerten dürfen, wer hat wirklich eine Zukunft in unserem Land', sagte er. Das sei ein wichtiger Baustein, um die sozialen Systeme in Deutschland langfristig zu stabilisieren. 'Wir haben heute 43 Millionen Erwerbstätige, in 20 bis 25 Jahren werden es Schätzungen zufolge nur noch 38 bis 39 Millionen sein, aber deutlich mehr Rentenbezieher.' Die Wirtschaftsvertreter sehen in den nicht abreißenden Flüchtlingsströmen Chancen, dem drohenden Fachkräftemangel entgegen zu wirken." [3] Das geht schon seit Wochen und Monaten so, die Arbeitgeber fordern wegen dem, wie sie sagen, drohenden Fachkräftemangel bessere Chancen für Flüchtlinge.

Die Arbeitgeberverbände haben durchaus recht, Deutschland braucht als faktisches Einwanderungsland endlich ein Einwanderungsgesetz. Gleichwohl ist das nur die halbe Wahrheit, denn das Ganze ist in meinen Augen ein bisschen zu ökonomisch gedacht. Natürlich ist es vorteilhaft, wenn sich Flüchtlinge über einen Arbeitsplatz schneller integrieren können, dennoch sollte man nicht aus dem Blick verlieren, dass es sich in erster Linie um ein humanitäres Problem handelt. Daran führt kein Weg vorbei: Menschen, die vor dem Terror fliehen, müssen ungeachtet ihrer etwaigen Nützlichkeit für die hiesige Wirtschaft Schutz vor Verfolgung genießen.

Und was die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge angeht, darf man auch die Fluchtursachen nicht außer Acht lassen. Ein Beispiel: Die EU exportiert seit Jahren billiges Hähnchenfleisch nach Afrika, zwischen 2009 und 2014 hat sich der Umfang der Ausfuhren von 199.000 Tonnen auf 592.000 Tonnen erhöht. Das ist ein Plus von 197 Prozent. [4] Folge davon: Die einheimischen Geflügelzüchter sind nicht mehr konkurrenzfähig und gehen zwangsläufig pleite. Doch dann wundern wir uns, wenn sich die auf diese Weise ökonomisch marginalisierten Menschen auf den Weg nach Europa machen. Natürlich gibt es, was die Fluchtursachen angeht, zahlreiche Gründe, die in den Herkunftsländern zu suchen sind. Stichworte: Endemische Korruption, eklatanter Mangel an Demokratie, ausgeprägter Tribalismus etc. Aber wir müssen auch die weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte beseitigen, d.h. vor Ort die grassierende Armut durch bessere Entwicklungsmöglichkeiten bekämpfen anstatt sie durch unser eigenes Handeln zunichte zu machen.

Die UN hat kürzlich einen Aktionsplan beschlossen, bis 2030 Armut und Hunger vollständig zu beseitigen. [5] Wie immer fehlt es noch am dafür notwendigen Kleingeld. Hoffentlich erleidet dieser Aktionsplan nicht das Schicksal der Millenniumsziele. Auf dem Millennium-Gipfel vom 6. bis 8. September 2000 in New York wurde u.a. beschlossen, im Vergleich zu 1990 die Zahl der Hungernden (damals 1,15 Mrd. Menschen) bis 2015 zu halbieren. Heute, im Zieljahr 2015, haben nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) noch immer 795 Mio. Menschen auf der Welt nicht genug zu essen. [6] Das Ziel wurde also deutlich verfehlt. Gerne brüstet man sich damit, den prozentualen Anteil der Hungernden seit 1990 von 23,6 Prozent auf 14,3 Prozent im Jahr 2013 gesenkt zu haben. [7] Das klingt ein bisschen positiver, ist aber lediglich ein Rechentrick, denn schließlich hat sich die Weltbevölkerung seit 1990 von 5,32 Mrd. auf 7,32 Mrd. vergrößert. Selbst wenn die Zahl der Hungernden gleich geblieben wäre, hätte man allein aufgrund des statistischen Effekts eine prozentuale Reduzierung erreicht.

Sich in Bezug auf Armut und Hunger in die Tasche zu lügen, nützt niemand. Es beruhigt lediglich das Gewissen der Reichen (zu denen sich die meisten Europäer zählen dürfen). Die müssen dann allerdings in Kauf nehmen, weiterhin mit hohen Flüchtlingszahlen zu leben. Das nennt man für gewöhnlich die normative Kraft des Faktischen.

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[1] Eurostat, Asylum and first time asylum applicants
[2] BAMF, Schlüsselzahlen Asyl 2014, PDF-Datei mit 672 kb
[3] Reutlinger General-Anzeiger vom 09.08.2015
[4] Die Zeit-Online vom 20.01.2015
[5] Nachrichten.at vom 04.08.2015
[6] WFP
[7] Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Beseitigung der extremen Armut und des Hungers