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18. Oktober 2015, von Michael Schöfer
Zäune sind keine Lösung


Der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Rainer Wendt, "fordert den Bau eines Zauns an der deutschen Grenze, um Flüchtlinge aufzuhalten. 'Wenn wir ernst gemeinte Grenzkontrollen durchführen wollen, müssen wir einen Zaun entlang der deutschen Grenze bauen. Ich bin dafür, dass wir das machen.' Er erklärte seine Forderung damit, dass ein deutscher Zaun eine Kettenreaktion auslösen soll: 'Wenn wir auf diese Weise unsere Grenzen schließen, wird auch Österreich die Grenze zu Slowenien schließen. Genau diesen Effekt brauchen wir.'" [1] Laut Wendt sei unsere innere Ordnung in Gefahr, und angeblich stünden wir vor sozialen Unruhen. Jemand müsse die Notbremse ziehen. PEGIDA hätte es kaum drastischer formulieren können. Wendts Forderung ist aber sowohl in rechtlicher als auch in praktischer Hinsicht Kokolores.

Kommen wir zuerst zu den praktischen Erwägungen: Die Grenze zwischen Deutschland und Österreich, auf die sich Wendt bezog, hat eine Länge von 815 Kilometern. Ein Zaun mit diesen Ausmaßen dürfte zweifellos gewaltige Kosten verursachen, die dann wiederum für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen fehlen. Und wenn der Grenzzaun steht, muss er natürlich auch bewacht werden, sofern er tatsächlich wirksam sein soll. Von topografischen Gesichtspunkten abgesehen bräuchte man dafür mindestens alle 100 Meter einen Grenzpolizisten (was allerdings in der Praxis kaum ausreichen dürfte). Das wären also 8.150 Polizeibeamte. Rund um die Uhr bewacht (drei Schichten von jeweils acht Stunden) bedeutet das allein für die Bewachung der deutsch-österreichischen Grenze summa summarum 32.600 Polizisten (Wechselschichtdienst mit vier Dienstgruppen). Ohne Berücksichtigung von Beamten im Krankenstand oder in Urlaub. Hinzu kommt das zur Bewachung notwendige Gerät (Fahrzeuge, Hubschrauber, Nachtsichtgeräte etc.). Von den Unterkunftsgebäuden ganz zu schweigen.

Die Bundespolizei, die Deutschlands Grenzen (3.700 km zu Land, 700 km zur See) bewacht, hat aber derzeit bloß 33.267 Polizeivollzugsbeamte. [2] Man müsste das Personal der Bundespolizei demzufolge verdoppeln oder verdreifachen. Doch selbst wenn man genug qualifizierte Bewerber hätte, braucht es geraume Zeit, bis diese für den aktiven Dienst zur Verfügung stehen. Im mittleren Dienst dauert die Ausbildung zweieinhalb, im gehobenen Dienst sogar drei Jahre. [3] Die Bundespolizei, die aktuell 2.500 Anwärter ausbildet, verfügt wahrscheinlich gar nicht über die erforderliche Ausbildungskapazität (Aus- und Fortbildungszentren, Lehrpersonal etc.), um die Anzahl ihrer Polizeibeamten drastisch aufzustocken. Das müsste Rainer Wendt als DPolG-Vorsitzender eigentlich wissen. Oder will er dazu die Bundeswehr einsetzen? Die kann zwar schießen, ist aber für die Polizeiarbeit total ungeeignet. Von rechtlichen Einwänden ganz abgesehen (dazu später mehr).

Flüchtlinge suchen sich erfahrungsgemäß andere Wege, wenn Zäune an bestimmten Stellen den Weg versperren. Die deutsch-tschechische Grenze hat eine Länge von 811 Kilometern, die deutsch-schweizerische eine von 316 Kilometern und die deutsch-französische eine von 448 Kilometern. Sollten jemals Flüchtlinge aus einer anderen Richtung kommen, Stichwort Ukraine, kämen noch einmal 442 Kilometer für die deutsch-polnische Grenze hinzu. Wendts populistische Forderung nach einer Kettenreaktion bedeutet in der Konsequenz nichts anderes als die Forderung nach einem Europa von "Gated States" (eingezäunte Staaten), analog zu den "Gated Communities" (eingezäunte und bewachte Wohnkomplexe). Die frühere innerdeutsche Grenze (vulgo: Zonengrenze) war im Vergleich dazu klein (1.390 km), dennoch benötigte die DDR immerhin eine Grenztruppe von 44.000 Bewaffneten, um die stark gesicherte Grenze zu bewachen. Dabei sollte man berücksichtigen, dass die DDR für die Bewachung Selbstschussanlagen und Minenfelder verwendete, was die Bundesrepublik hoffentlich niemals anstrebt und rechtlich gar nicht kann. Nach der Ottawa-Konvention (Übereinkommen über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Antipersonenminen und über deren Vernichtung) dürften wir gar keine Minen einsetzen, selbst wenn wir das wollten. Dieser völkerrechtliche Vertrag ist in Deutschland bindendes Recht.

Kommen wir nun zu den rechtlichen Erwägungen: Deutschland ist ein Rechtsstaat, daran wird vermutlich auch Rainer Wendt nichts ändern wollen (schließlich hat er ja einst einen Eid auf die Verfassung abgelegt). Selbst ein Grenzzaun kann nicht verhindern, dass Menschen bei uns Asyl beantragen. "Zum Recht auf Asyl gehört das Recht auf Zugang zu einem Asylverfahren", betont Hendrik Cremer, wissenschaftlicher Leiter beim Deutschen Institut für Menschenrechte. [4] Wir dürfen Flüchtlinge also gar nicht zurückweisen, daran ändern Zäune keinen Deut. Auch die Genfer Flüchtlingskonvention ist hierzulande bindendes Recht. Danach darf ein Flüchtling, wenn er anschließend Asyl beantragt, für den illegalen Grenzübertritt weder bestraft (Artikel 31) noch zurückgewiesen respektive ausgewiesen werden, sofern sein Leben und seine Freiheit bedroht sind (Artikel 33). Deutschland gehört übrigens zu den sechs Erstunterzeichnerstaaten der Konvention. Das Asylrecht ist nicht nur im Grundgesetz verankert (Artikel 16 und 16a), sondern ebenso in der EU-Grundrechtecharta (Artikel 18).

Der Zaun, den Rainer Wendt fordert, verhindert also lediglich, dass Flüchtlinge über die sogenannte "Grüne Grenze" gehen, unterbindet aber letztlich keine einzige Einreise (es sei denn, der DPolG-Chef spekuliert darauf, dass sich andere Länder die Hände schmutzig machen und gegen gültiges Recht verstoßen). Ein Zaun bindet freilich unnötig Ressourcen, die wir zur Bewältigung der Flüchtlingskrise andernorts dringend brauchen. Kurz gesagt: Er ist vollkommen nutzlos - zumindest solange wir uns ans Grundgesetz und an internationale Verträge halten. Sollen wir das alles über Bord werfen? Bleibt Wendt bei seiner Forderung, ginge es gar nicht anders.

Wer überdies soziale Unruhen geradezu herbeiredet, handelt absolut verantwortungslos. Und wer die unleugbar vorhandene soziale Ungerechtigkeit mit dem Zustrom von Flüchtlingen verknüpft, ist realitätsblind. Ein Beispiel: Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) hatten im vergangenen Jahr 335.000 Menschen keine Wohnung. [5] Schlimm, aber dass der Staat die Versorgung mit Wohnraum dem freien Markt überließ und sich vom sozialen Wohnungsbau weitgehend verabschiedete, hat doch nichts mit den Flüchtlingen zu tun. Der Trend zu luxuriösen Eigentumswohnungen, die Verdrängung der mittleren und unteren Einkommensschichten aus den teuer gewordenen Ballungsräumen ist schließlich einzig und allein Folge der neoliberalen Politik, die schon mehr als dreißig Jahre lang alle Entscheidungen dominiert. Das zu kritisieren fällt Rainer Wendt offenkundig schwer, weil dafür seine eigene Partei verantwortlich ist (er ist laut Wikipedia seit den siebziger Jahren CDU-Mitglied). Stattdessen schlägt Wendt lieber auf Flüchtlinge ein und spielt die Armen bei uns und die Armen der Bürgerkriegsregionen gegeneinander aus.

Die reichsten 10 Prozent in Deutschland besitzen 5,58 Billionen Euro, die unteren 70 Prozent zusammen gerade mal eine Billion. Die Einkünfte aus Gewinnen und Vermögen sind seit der Jahrtausendwende nominal um 60,2 Prozent gestiegen, die Arbeitnehmereinkommen hingegen bloß um 32,6 Prozent. [6] Die Armutsquote ist zwischen 1992 und 2013 von 11,8 auf 15,5 Prozent gestiegen. [7] Ist das die Schuld der Asylbewerber? "Die vermögendsten 0,7 Prozent der Erde besitzen mit 113 Billionen Dollar inzwischen fast die Hälfte des gesamten globalen Wohlstands. (…) Dagegen besitzen die ärmsten 71 Prozent der Weltbevölkerung lediglich drei Prozent des weltweiten Reichtums." [8]

Anstatt soziale Unruhen an die Wand zu malen, sollte der Gewerkschafter die soziale Ungleichheit thematisieren und alle Versuche unterstützen, die beklagenswerten Zustände zu ändern. Der eigentliche Gegensatz auf diesem Planeten ist nämlich nicht der zwischen Einheimischen und Flüchtlingen, sondern der zwischen Arm und Reich. Und solange man das nicht zu korrigieren bereit ist, wird es immer mehr Flüchtlinge geben. Die Flüchtlingsströme, die durch die globale Erwärmung hervorgerufen werden, fallen bestimmt noch viel größer aus. Uns von den globalen Flüchtlingsströmen abzuschotten, ist aber nur unter Preisgabe humaner Prinzipien möglich - den vielbeschworenen "westlichen Werten". Die Welt ist voller Probleme, doch Rainer Wendt beglückt uns mit der Forderung nach einem Zaun. Das ist lächerlich und im Grunde menschenverachtend. Vor allem weil er offen lässt, was mit denen außerhalb des Zaunes künftig geschehen soll. Implizit überlässt er sie nämlich kurzerhand ihrem Schicksal. Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn. Nein, Zäune sind keine Lösung.

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[1] Die Welt-Online vom 18.10.2015
[2] Bundespolizei, Zahlen, Daten, Fakten
[3] Bundespolizei, Einstellungsvoraussetzungen
[4] Frankfurter Rundschau vom 17.10.2015, online nicht verfügbar
[5] Frankfurter Rundschau vom 05.10.2015
[6] Frankfurter Rundschau vom 14.10.2015, online nicht verfügbar
[7] Böckler Impuls, Ausgabe 05/2015 (für 1992) und Die Welt-Online vom 19.02.2015 (für 2013)
[8] Die Welt-Online vom 15.10.2015