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26. Dezember 2015, von Michael Schöfer
Der angebliche Volkswille


Regeln sind wichtig, denn Regeln sind die Grundlage für alles. Im Sport sollen sie dafür sorgen, dass alle unter den gleichen Bedingungen um den Sieg kämpfen und keiner einen unlauteren Vorteil genießt. Deshalb bekommt man im Fußball für Fouls die gelbe, mitunter sogar die rote Karte gezeigt. Dopende Radfahrer und Leichtathleten sind ebenso verpönt wie korrupte Sportfunktionäre. In der Politik legen Gesetze die Regeln fest, nach denen die Gesellschaft funktioniert. Das Fundament des Ganzen bildet die Verfassung, gewissermaßen die Mutter aller Regeln.

Ein fundamentaler Bestandteil von Demokratien ist die Gewaltenteilung, die Verteilung der Macht auf unterschiedliche, sich gegenseitig kontrollierende Institutionen: Gesetzgebung (Legislative), Vollzug (Exekutive) und Rechtsprechung (Judikative). Macht verführt erfahrungsgemäß zu Machtmissbrauch, und deshalb kommt es immer wieder vor, dass eine Institution ihre Macht zum Nachteil einer anderen ausweiten möchte. Das erleben wir derzeit in Polen, wo das Parlament per Gesetz die Befugnisse des Verfassungsgerichts beschnitten hat. Bislang mussten fünf Verfassungsrichter anwesend sein, um eine Entscheidung zu fällen, künftig sind dafür 13 der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts erforderlich. Urteile bedürfen jetzt der Zwei-Drittel-Mehrheit, vorher war bloß die einfache Mehrheit notwendig. Und schließlich muss das Verfassungsgericht die Fälle chronologisch nach ihrem Eingangsdatum abarbeiten. Hinzu kommt die zumindest teilweise verfassungswidrige Besetzung des Gerichts.

Die rechtspopulistische Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit) beschließt also kurzerhand, die Spielregeln des polnischen Staates zu ändern und beruft sich dabei auf das Mandat des Volkes. Kornel Morawiecki, Abgeordneter der mit der PiS verbündeten Kukiz'15, begründete das Ansinnen im Sejm wie folgt: "Das Recht ist eine wichtige Sache, aber es ist kein Heiligtum. Über dem Recht steht das Wohl des Volkes. Wenn das Recht dieses Wohl stört, dann dürfen wir es (das Recht) nicht als etwas ansehen, dass wir nicht verletzen und ändern können ( ...) Das Recht muss uns dienen! Das Recht, das nicht dem Volk dient, ist Rechtlosigkeit!" [1] So einfach ist das. Mit dem angeblichen Volkswillen lässt natürlich alles begründen. Schon von jeher haben sich Autokraten auf den vermeintlichen Auftrag des Volkes berufen, um anschließend ihre eigensüchtigen Motive zu verfolgen. Der angebliche Volkswille dient allein dazu, ihre wahren Absichten zu verschleiern.

Darüber hinaus hat die PiS bei den Parlamentswahlen vom 25.10.2015 nur 37,6 Prozent bekommen, das Wahlrecht bescherte ihr allerdings 235 der insgesamt 460 Mandate und damit die absolute Mehrheit. Doch selbst mit den 8,8 Prozent von Kukiz'15 kommen beide rechtspopulistische Parteien gemeinsam bloß auf 46,4 Prozent (7,05 von 15,2 Mio. gültigen Stimmen). Berücksichtigt man zudem die magere Wahlbeteiligung von 50,9 Prozent (15,6 von 30,6 Mio. Wählern gingen zur Wahl), wurden PiS und Kukiz'15 von gerade einmal 23 Prozent der Wahlberechtigten gewählt. [2] Ein klares Mandat des Volkes? Wohl kaum. Doch selbst wenn beide bei hoher Wahlbeteiligung prozentual die absolute Mehrheit bekommen hätten, ist das noch lange kein Mandat, das Fundament der Demokratie (die Kräfteverteilung der politischen Institutionen) anzutasten. Die Parteien hätten auch in diesem Fall lediglich den Auftrag erhalten, nach den allseits anerkannten Regeln Politik zu betreiben, und nicht, die Regeln selbst zu ändern. Wer die Regeln unvermittelt neu definiert, muss sich berechtigterweise den Vorwurf der Manipulation gefallen lassen. Der neue Sejm ist erst am 12. November zusammengetreten. Das, was wir jetzt erleben, ist offenbar nur der Anfang.

Es gibt übrigens eine bezeichnende Parallele: 1937 versuchte US-Präsident Franklin Delano Roosevelt das innere Gefüge des Obersten Gerichtshofes (Supreme Court) mithilfe einer Justizreform zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Kurz zuvor war er mit überwältigenden 60,8 Prozent der Stimmen wiedergewählt worden (Roosevelt gewann 46 von 48 Bundesstaaten). Der Supreme Court hatte 1935/1936 die ersten New-Deal-Gesetze (das, wofür der Demokrat Roosevelt heute noch berühmt ist) für verfassungswidrig erklärt. "Der Oberste Gerichtshof war nach Roosevelts Regierungsübernahme überwiegend mit Richtern besetzt, die von republikanischen Präsidenten berufen wurden." Ein von Roosevelt vorgelegtes Gesetz sollte dem amerikanischen Präsidenten die Kompetenz erteilen, "für jeden über 70-jährigen Richter, der sich weigerte, in Ruhestand zu gehen, zusätzliche neue Richter zu ernennen." [3] In einer Rundfunkrede begründete er das so: "Am letzten Donnerstag beschrieb ich die amerikanische Regierungsform als Dreispänner, den die Verfassung dem amerikanischen Volk zur Verfügung stellt, damit es seinen Acker pflügen kann. Die drei Pferde sind natürlich die drei Regierungszweige: der Kongress, die Exekutive und die Gerichte. Zwei der Pferde, der Kongress und die Exekutive, ziehen heute in eine Richtung, das dritte jedoch nicht." [4] Roosevelt beteuerte, er habe vom Wähler den Auftrag bekommen, das zu ändern. Doch trotz seiner unbestreitbar großen Popularität und trotz einer demokratischen Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses scheiterte Roosevelt mit seinem Vorhaben, weil Abgeordnete und Bürger es zu Recht als Versuch werteten, das Gleichgewicht der Kräfte (d.h. die Spielregeln der Demokratie) neu auszutarieren. In Meinungsumfragen sprachen sich nur ungefähr 40 Prozent der Bevölkerung für seinen Plan aus. Die zu jenem Zeitpunkt 150 Jahre alte amerikanische Verfassung erwies sich als stark genug, diesen Angriff erfolgreich abzuwehren. Roosevelt wurde dennoch ein guter Präsident.

Wer Regeln zu seinen Gunsten manipuliert, ist kein Demokrat. Wer Regeln nur anerkennt, solange sie ihm nutzen, ebenso wenig. Von solchen Menschen geht Gefahr aus. Cornelius Vanderbilt, der Prototyp des skrupellosen Unternehmers, hat einmal gesagt: "Was schert mich das Gesetz? Habe ich nicht die Macht?" Es sollte in Demokratien zum common sense gehören, derart rücksichtslose Charaktere von den Schalthebeln der Macht fernzuhalten, sie entpuppen sich nämlich allzu oft als ausgesprochen destruktiv.

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[1] Süddeutsche vom 14.12.2015
[2] Nationale Wahlkommission, Ergebnisse der Wahl zum Sejm
[3] Wikipedia, Franklin D. Roosevelt, Innenpolitik und angestrebte Justizreform
[4] Daron Acemoglu / James A. Robinson, Warum Nationen scheitern, Frankfurt/Main 2014, Seite 392