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09. April 2016, von Michael Schöfer
Sind die EU-Bürger für die Demokratie nicht reif genug?


Peinliche Momente kommen in jedem Leben vor, sie sind im Laufe der Jahre nahezu unvermeidlich. Auch ich kann mich an Äußerungen von mir erinnern, für die ich selbst nach mehr als 30 Jahren vor Scham im Boden versinken möchte. Aber es hilft ja nichts - in der Welt ist nun mal in der Welt. Man würde sie gerne, wie so vieles andere, aus dem Gedächtnis verbannen, doch es gehört zur höchst beklagenswerten Realität unseres Daseins, dass sich gerade diese Momente fest im Gehirn eingebrannt haben. Zum Glück bin ich nicht berühmt, weshalb meine peinlichen Momente für die Nachwelt verloren sind. Ach, wie gut, dass niemand weiß... Anders als bei Politikern, deren Reden und Interviews dank Internet zumindest theoretisch die Jahrhunderte überdauern, während meine Dummheiten bis dahin längst der Vergessenheit anheim gefallen sind. Ganz so, als habe es sie nie gegeben.

Nun gehört Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn, einer der erfahrensten Politiker Europas, gemeinhin nicht zu denen, die oft mit peinlichen Äußerungen hervortreten (EU-Kommissar Günther Oettinger hat diesbezüglich wesentlich mehr "Erfolge" vorzuweisen). Im Gegenteil, Asselborn hatte bislang den Ruf, recht vernünftig zu sein. Dennoch ist ihm jetzt in einem Interview ein schier unglaublicher Lapsus unterlaufen, den er vielleicht zurücknehmen würde, sofern er ihn zurücknehmen könnte. Kann er aber nicht, denn das Internet vergisst bekanntlich nichts. "Wenn man Europa kaputt machen will, braucht man nur mehr Referenden zu veranstalten", sagte er der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung mit Blick auf das niederländische Referendum zum Assoziierungsabkommen mit der Ukraine. Seine Empfehlung: Einfach keine weiteren Volksabstimmungen mehr abhalten. Die Welt kann zuweilen erstaunlich unkompliziert sein.

Auch die Fraktionschefin der Grünen im Europaparlament, Rebecca Harms, meint: "Plebiszitäre Elemente zu europäischer Politik, die so angelegt sind wie die gestrige Abstimmung, können die EU in ihrem Bestand gefährden." [1] Peinlich für Harms: Das Europawahlprogramm, mit dem sie 2014 ein weiteres Mal ins Europaparlament gewählt wurde, sagt dazu Folgendes: "Wir wollen eine EU als Vorreiterin für mehr direkte Demokratie und Beteiligung." (Seite 124) "BürgerInnenbelange müssen ernst genommen und Möglichkeiten zur aktiven Beteiligung durch direkte Demokratie geschaffen werden." (Seite 126) [2] Offenbar reine Lippenbekenntnisse.

Oder anders ausgedrückt: Abgehobenheit as its best. Eigentlich widersinnig, Volksabstimmungen in einer Demokratie (= altgriechisch: Herrschaft des Staatsvolks) als schädlich zu bezeichnen. Natürlich dürfen einem Abstimmungsergebnisse missfallen, aber Referenden sind im Grunde sogar die demokratische Urform der Herrschaftsausübung. In der Attischen Demokratie, die man uns für gewöhnlich stolz als Vorbild der modernen Demokratie präsentiert (Achtung, jetzt weht der Hauch der Geschichte!), war die Volksversammlung (Ekklesia) der oberste Souverän Athens. Auf der Agora wurde debattiert und anschließend abgestimmt.

In der Schweiz hat sich dieses Instrument bis heute erhalten und ist dort seit 1848 Bestandteil der Bundesverfassung. Doch im Unterschied zu Deutschland (Artikel 20 Abs. 2 GG), hier versteckt sich das Establishment gerne hinter der repräsentativen Demokratie, stehen Volksabstimmungen bei den Schweizern nicht bloß pro forma in der Verfassung, sondern werden nach wie vor erfolgreich praktiziert. In den Kantonen Appenzell Innerrhoden und Glarus gibt es tatsächlich noch sogenannte Landsgemeinden, in denen die wahl- und stimmberechtigten Bürger eines Kantons, eines Bezirks oder eines Kreises an einem bestimmten Tag unter freiem Himmel zusammenkommen. Vorlagen zu Volksabstimmungen finden naturgemäß selten ungeteilten Zuspruch, aber sie sind in der Schweiz allgemein als oberste Instanz anerkannt. Und wie man anerkennen muss, funktioniert das Ganze verblüffend reibungslos. Die Eidgenossenschaft ist daran jedenfalls nicht zugrunde gegangen.

Allein der Kontrast zur Attischen Demokratie oder zur direkten Demokratie in der Schweiz belegt die Demokratiedefizite des europäischen Projekts. Referenden sind in der EU unerwünscht. Vor allem dann, wenn sie nicht das vom Establishment gewünschte Ergebnis bringen. Leider (aus der Sicht der Herrschenden) sind sie manchmal unvermeidlich. Die Entscheider würden viel lieber unter sich bleiben und die Geschicke einer Gemeinschaft mit 508 Mio. Einwohnern quasi vom Hinterzimmer aus lenken. Um im Bild zu bleiben: Hier die weisen Frauen und Männer, dort das unverständige Volk, dem man die Beschlüsse im Nachhinein nur noch plausibel machen muss (oder es im Zweifelsfall auch bleiben lassen kann). So läuft es etwa bei den Freihandelsabkommen Ceta und TTIP. Üblicherweise nennt man das Paternalismus (Bestreben des Staates, seine Bürger zu bevormunden). Und wenn die Kinder bockig sind, nimmt man ihnen eben das ohnehin ungeliebte Spielzeug kurzerhand vollständig weg. Will heißen: Wenn ihr nicht so abstimmt, wie wir das wollen und für richtig halten, gib es halt keine Volksabstimmungen mehr. Nichts anderes meinen Asselborn und Harms. Doch das ist ebenso dumm wie dreist, aber immerhin, was das Demokratieverständnis des Establishments angeht, äußerst aufschlussreich.

Glaubt man in den politischen Schaltzentralen wirklich, auf diese Art und Weise das Projekt Europa, das nur ein demokratisches sein kann, voranzubringen? Dann leiden die Herrschaften unter ausgeprägtem Realitätsverlust. Europa muss vielmehr die Demokratiedefizite beseitigen und nicht vergrößern - auch wenn dabei die ein oder andere Abstimmung in die Hose geht. Über Sachfragen, wie das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, kann man getrost streiten und sie unterschiedlich bewerten. Wichtig ist jedoch, die demokratische Substanz der EU zu sichern. Asselborns und Harms' Paternalismus ist freilich diesem Ziel genauso abträglich wie die Politik der Rechtspopulisten. Merken sie nicht, dass sie mit ihren dämlichen Äußerungen den Feinden der Demokratie geradewegs in die Hände spielen? Wie wäre es zur Abwechslung mal mit "mehr Demokratie wagen" anstatt mit "immer weniger Demokratie gewähren"? Es ist doch offenkundig, dass das krampfhafte Festhalten an der Politik der eingefahrenen Gleise zwangsläufig das Projekt Europa zum Entgleisen bringen wird. Solange es beim Establishment nur Unbehagen über das Ergebnis von Volksabstimmungen gibt, aber kein Unbehagen über die Gründe, die das Volk dazu treiben, wird sich leider kaum etwas ändern. Der Protest wird bloß von Mal zu Mal stärker, bis uns der ganze Laden um die Ohren fliegt.

Kassandra, eine Tochter des Priamos, war mit den Gaben der Schönheit und der Weissagung gesegnet. Gleichzeitig lastete auf ihr der Fluch des Apollon, keiner möge ihren Prophezeiungen Glauben schenken. Der griechischen Mythologie zufolge wurde Troja genau das zum Verhängnis. "Ihr Elenden, seht ihr nicht, daß wir die Straße zum Hades hinunterwandeln, daß wir am Rande des Verderbens stehen? Ich schaue die Stadt mit Feuer und Blut erfüllt, ich sehe es aus dem Bauch des Rosses hervorwallen, das ihr mit Jauchzen auf unsere Burg hinaufgeführt habt. Doch ihr glaubt mir nicht, und wenn ich unzählige Worte spräche. Ihr seid den Erinnyen geweiht, die Rache an euch nehmen wegen Helenas frevelhafter Ehe." [3]

Ist Rebecca Harms Kassandra? Ist Jean Asselborn Laokoon, der die Trojaner ebenfalls vor dem hölzernen Pferd warnte? ("Unselige Mitbürger, welcher Wahnsinn treibt euch?") [4] Und sind die Befürworter der direkten Demokratie die Verblendeten, die den gutgemeinten Rat leichtfertig in den Wind schlagen? Wohl kaum, denn mangelnde Demokratie hat ja die Europäische Union erst in diese verzwickte Lage gebracht. Und angesichts dessen kann es keine Lösung sein, diesen Mangel noch zu verstärken. Lasst das Volk abstimmen. Überall. Es muss schließlich auch die Konsequenzen tragen. Im Guten wie im Schlechten, je nach Ergebnis. Wenn die Entscheidungskompetenz in den Händen derer liegt, die das Ganze dann auch auszubaden haben, werden sich die Bürgerinnen und Bürger ihr Abstimmungsverhalten gewiss gründlich durch den Kopf gehen lassen. Kein vernünftiger Mensch fordert, in Abstimmungen die Prinzipien der Demokratie (Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Menschenrechte, Presse- und Meinungsfreiheit etc.) zur Disposition zu stellen. Das will bloß eine radikale Minderheit. Aber warum sollen wir nicht über Sachfragen wie die Beibehaltung des Euro oder die Erweiterung der Gemeinschaft befinden? Weil das Volk so dumm ist, die Volksvertreter hingegen so schlau? Ich bitte Sie...

Ein Beispiel: Warum geht in der Schweiz, was die Politiker bei uns meiden wie der Teufel das Weihwasser? Die Eidgenossen suchen momentan ein geeignetes Endlager für ihre radioaktiven Abfälle, darüber wird am Ende ein Referendum befinden. In Deutschland ist nach dem Standortauswahlgesetz zwar die Information der Öffentlichkeit und die Durchführung von Bürgerversammlungen vorgesehen, am Ende entscheidet aber - wie gehabt - allein der Gesetzgeber (§ 20 StandAG). Hierzulande darf der Bürger also lediglich debattieren, abstimmen darf er nicht. Die Verantwortlichen in der Schweiz wissen, dass sie diese heikle Entscheidung nur mit größtmöglicher Transparenz durchbekommen. Tricks, mit denen man das Wahlvolk über den Tisch zu ziehen beabsichtigt, verbieten sich daher von vornherein von selbst, sie wären nämlich absolut kontraproduktiv und der Vertrauensverlust bei Entdeckung irreparabel. Tricks, die in der Vergangenheit in Deutschland die Lagerung radioaktiver Stoffe begleiteten (Asse, Gorleben), gibt es zuhauf. Die ausschlaggebende Frage ist: Sind die EU-Bürger weniger reif für die Demokratie als die Schweizer?

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[1] Die Zeit-Online vom 09.04.2016
[2] Bündnis 90 / Die Grünen, Europawahlprogramm 2014, PDF-Datei mit 793 kb
[3] Gustav Schwab, Sagen des klassischen Altertums, München/Zürich 1974, Seite 442
[4] Gustav Schwab, a.a.O. Seite 439