Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



17. August 2016, von Michael Schöfer
Schattenwesen


Was wir wissen, ist genau genommen nicht allzu viel. Der Homo sapiens hat in den vergangenen Jahrhunderten zweifelsohne einen ungeheuren Wissensschatz angesammelt, aber je mehr wir wissen, desto klarer wird uns gleichzeitig, wie wenig wir wissen. "Ich weiß, dass ich nichts weiß." (Sokrates) Eigentlich paradox.

Beispiel "spukhafte Fernwirkung": Wenn zwei Quantenteilchen (z.B. Photonen) "verschränkt" sind, bleiben sie auf bislang unerklärliche Weise in Verbindung. Nehmen wir der Anschaulichkeit halber zwei Münzen, die aus einer Quelle erzeugt wurden (demzufolge verschränkt sind) und die wir in entgegengesetzte Richtungen werfen. [1] Unser Alltagsverstand sagt uns, dass die Seite, die nach dem Wurf oben erscheint, bei jeder Münze dem puren Zufall überlassen ist. Für einzelne Münzen oder nicht verschränkte Münzen stimmt das auch. Bei verschränkten Münzen wird der Zufall jedoch eliminiert, denn immer wenn eine Münze "Down" zeigt, bleibt die andere im gleichen Augenblick auf "Up" liegen. Ausnahmslos! Etwas, das es nach dem Zufallsprinzip gar nicht geben dürfte. Die eine Münze teilt der anderen Münze offenbar mit, welches Ergebnis sie zeigen wird, und sie stimmen die Ergebnisse aufeinander ab.

Fliegen nun beide Münzen mit Lichtgeschwindigkeit in entgegengesetzte Richtungen, ändert sich daran erstaunlicherweise nichts. Zeigt die eine "Down", zeigt der andere stets "Up". Irgendwie kommunizieren die Münzen miteinander. Doch wie? Da sie mit Lichtgeschwindigkeit in entgegengesetzten Richtungen geflogen sind, müssten sie sich ja über das Ergebnis mit Überlichtgeschwindigkeit unterrichten. Allerdings gibt es nichts, das schneller als Licht fliegt. Soweit man weiß, sind 299.792.458 Meter pro Sekunde in unserem Universum das absolute Geschwindigkeitsmaximum. [2] Keine Naturkonstante wurde öfter und intensiver überprüft. Frage: Wie kommunizieren die Münzen miteinander? Antwort: Wir wissen es nicht. Wir können lediglich feststellen, dass irgendeine Abstimmung des Verhaltens der Münzen stattfindet. Albert Einstein bezeichnete dieses in Experimenten vielfach belegte Phänomen als "spukhafte Fernwirkung".



Beispiel "dunkle Materie": Es gibt da draußen etwas, das wir nicht sehen, aber dennoch zweifelsfrei existiert. Wir wissen das allein aufgrund der Gravitationswirkung, die es ausübt. Wir messen nämlich im Universum Gravitationskräfte, die sich nicht aus der Menge und Anordnung "normaler" (d.h. sichtbarer) Materie ableiten lässt, aus diesem Grund nennt man dieses Etwas "dunkle Materie". Gravitation ist eine Eigenschaft der Materie. Die Materie sagt der Raumzeit, wie sie sich zu krümmen hat, und die Raumzeit sagt der Materie, wie sie sich bewegen muss. (Raum und Zeit sind bekanntlich eine untrennbar miteinander verwobene Einheit.) Im Grunde müsste man die "dunkle Materie" als normal bezeichnen, weil sie den Gravitationsmessungen zufolge viel häufiger vorkommt als sichtbare Materie. So besteht eine Galaxie wie unsere Milchstraße aus 90 Prozent dunkler Materie. Wenn Sie durch ein Teleskop die Andromeda-Galaxie betrachten, sehen Sie also nur einen Bruchteil dessen, woraus sie tatsächlich besteht. Und wir haben bislang keinen blassen Schimmer, was die "dunkle Materie" eigentlich ist.

Es ist zum Haare ausraufen: Was das Universum immer schneller expandieren lässt, können wir uns bloß mit dem Vorhandensein von "dunkler Energie" erklären. Was das Universum im Innern zusammenhält, erklären wir uns mit der ebenso spekulativen Stringtheorie. Verhalten sich Quantenteilchen wirklich grundlegend anders, wenn wir sie beobachten? (Kopenhagener Deutung, Doppelspaltexperiment) Oder stimmt vielleicht Hugh Everetts schwindelerregende Viele-Welten-Theorie? Extrem spannend, aber derzeit leider nicht zu beantworten. Womöglich sogar niemals. Ob unser Universum das einzige ist oder ob noch andere existieren, darüber dürfen wir immerhin Vermutungen anstellen - wenngleich diese momentan mehr mit Science-Fiction zu tun haben. Schon allein die Frage, worin sich das Universum ausbreitet und was vor dem Urknall war, ist nach Ansicht der Wissenschaftler unzulässig, da sich Raum und Zeit erst mit unserem Universum gebildet hätten. Es gebe mithin weder einen Raum außerhalb unseres Universums noch existierte eine Zeit vor dessen Geburt. Sind die Wissenschaftler da ganz sicher? Nun ja… Fast sicher.

All das ist nahezu unbegreiflich und unser Verstand damit schlicht und ergreifend überfordert. Der Mensch ist gewissermaßen ein Schaf, auf dessen Retina das Licht des Mondes fällt. Was weiß das Schaf über den Erdtrabant? Was weiß es über Astronomie? Sehr wahrscheinlich nichts. Außer, dass am Himmel nachts gelegentlich ein helles Licht erscheint. Einmal stärker, einmal schwächer, unterschiedlich geformt und ab und zu abwesend. Vermisst das Schaf den Mond, wenn er sich verbirgt? Es wird sich darüber wohl kaum tiefschürfende Gedanken machen. Der Fluch des Menschen ist, klüger als ein Schaf zu sein, aber genau genommen nicht viel mehr zu wissen. Okay, okay, ein bisschen mehr zu wissen (damit Sie sich, liebe Leserinnen und Leser, weiterhin der Illusion vom Mensch als "Krone der Schöpfung" hingeben können).

Sokrates war der Lehrmeister von Platon. Und Platon bereicherte die Welt u.a. mit dem Höhlengleichnis: Im Höhlengleichnis sind Menschen von Geburt an in einer Höhle mit dem Rücken zum Höhleneingang festgebunden. Hinter dem Höhleneingang befindet sich eine Mauer, hinter dieser wiederum ein Feuer. Menschen tragen hinter der Mauer Gegenstände vorüber, die die Mauer überragen. Die gefesselten Höhlenbewohner nehmen von den Gegenständen aber ausschließlich die Schatten wahr, die das Feuer auf die Höhlenwand projiziert. Und anhand dieser Schatten sollen die Höhlenbewohner Schlussfolgerungen über den wahren Charakter der Wirklichkeit ziehen. Für Platon ist das Ganze eine Metapher unseres Zugangs zur Realität: Wir sehen lediglich die Schatten und grübeln krampfhaft über deren Bedeutung nach. Das war vor rund 2.400 Jahren. Offensichtlich hat sich seitdem nur wenig verändert.


Das Höhlengleichnis von Platon
[Quelle: Wikimedia Commons, CC BY-SA 2.0 DE-Lizenz, Urheber: Liquidian]

----------

[1] für makroskopische Objekte wie Münzen gilt das natürlich nicht, das Phänomen ist nur anhand von Münzen wesentlich besser zu erklären
[2] noch komischer: die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum ist unter allen Umständen dieselbe