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22. November 2016, von Michael Schöfer
Freut euch nicht zu früh!


Am nächsten Sonntag wählen die französischen Républicains ihren Präsidentschaftskandidat, seit dem überraschenden Ausgang der ersten Runde gilt François Fillon als klarer Favorit. Allgemein wird erwartet, dass mit dem zweiten Wahlgang der parteiinternen Vorwahlen zugleich der nächste französische Präsident gekürt wird.

Diese Ansicht beruht auf folgender Annahme: Da die Präsidentschaftswahl aus zwei Wahlgängen besteht (es sei denn, ein Kandidat erreicht bereits im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit), wählen im zweiten Wahlgang auch Linke den konservativen Kandidaten - bloß um dadurch Marine Le Pen vom rechtsextremen Front National zu verhindern. Le Pen liegt momentan in Umfragen mit ungefähr 30 Prozent an der Spitze und dürfte daher mit großer Sicherheit in den zweiten Wahlgang einziehen. Da aber außer ihren eigenen Anhängern angeblich alle anderen Angst vor einer Präsidentin Le Pen haben, sammelt ihr Gegenkandidat - egal, wer es ist - automatisch die Stimmen aus dem bürgerlichen und zugleich die aus dem linken Lager ein.

Wenn man sich da mal nicht verrechnet. Das Programm von François Fillon ist nämlich extrem neoliberal, er gilt als Anhänger des Thatcherismus. So will er zum Beispiel im öffentlichen Dienst 500.000 Stellen streichen, die 35 Stunden-Woche wieder abschaffen, Gewerkschaftsrechte stark beschneiden, das Arbeitslosengeld begrenzen, das Rentenalter anheben, die Vermögensteuer abschaffen, die Mehrwertsteuer erhöhen, die Sozialabgaben der Unternehmen drastisch senken und im Haushalt 100 Mrd. Euro einsparen. Marine Le Pen wird es freuen, denn so kann sie sich noch besser als Interessenvertreterin des sogenannten "kleinen Mannes auf der Straße" gerieren, denn bei dem dürfte das wirtschaftsliberale Programm von Fillon wenig Anklang finden. Ob Fillon damit bei der von Abstiegsängsten geprägten Mittelklasse reüssieren kann, wage ich zu bezweifeln.

Er sei ein französischer Gerhard Schröder, heißt es. Nun, wir erinnern uns: Nachdem der SPD-Kanzler im März 2003 die "Agenda 2010" verkündete, verlor seine Partei eine Landtagswahl nach der anderen - und er selbst am Ende sein Amt als Bundeskanzler. Diese Analogie ist insofern eher ein Menetekel als eine positive Verheißung. Fillion hat einen weiteren gravierenden Nachteil: Er gehört seit Mitte der siebziger Jahre auf unterschiedlichen Positionen dem inzwischen bei vielen verhassten Establishment an, zunächst als stellvertretender Büroleiter eines Ministers, danach als Abteilungsleiter eines anderen Ministers, später war er selbst Abgeordneter, Senator, Minister und sogar Premierminister. Natürlich erwarb auch er sein Hochschuldiplom auf einer Pariser Eliteuniversität. Mehr Establishment geht kaum!

Und jetzt kommt der entscheidende Punkt: Viele ehemalige Wähler der Sozialisten sind von ihrer Partei bitter enttäuscht, ein erklecklicher Teil davon wählt ohnehin bereits den Front National, vor allem in den vom Niedergang betroffenen Industriegebieten, gewissermaßen dem französischen Pendant zum amerikanischen "Rust Belt". Möglicherweise übt der Teil der Linken, der nicht zum Front National überlaufen will, Wahlenthaltung. Jedenfalls dürfte es angesichts seines Programms jedem Wähler aus dem linken Lager schwerfallen, das Kreuz hinter Fillon zu machen. Trotz Le Pen. Die Républicains könnten sich verkalkulieren. Genau das ist die Chance des Front National.

Deshalb gilt: Freut euch nicht zu früh! Wir haben ja vor kurzem bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen erlebt, wie trügerisch Umfragen und Wahlprognosen sein können. Die Presse sah fast ausnahmslos Hillary Clinton als sichere Siegerin. Bis zum Wahltag. Im Nachhinein waren alle vom Sieg Donald Trumps überrascht. Vielleicht sind wir im nächsten Jahr (der erste Wahlgang findet am 23. April statt, die Stichwahl am 7. Mai) genauso unangenehm überrascht.

Kommt Marine Le Pen tatsächlich an die Macht, bedeutet das womöglich das Ende der Europäischen Union, die französischen Präsidentschaftswahlen sind also extrem wichtig. Schade, dass die EU derzeit fast überall wenig Freunde hat, doch das hat sie sich selbst zuzuschreiben. Wenn es extrem schlecht läuft, sieht die politische Landschaft Europas 2017 wie folgt aus: In Österreich kommt der Bundespräsident und der Bundeskanzler aus den Reihen der FPÖ, in den Niederlanden regiert Geert Wilders (PVV), in Frankreich Marine Le Pen (FN). Und vor dem Hintergrund dieser veränderten politischen Landschaft gehen dann die Deutschen im Herbst in die Bundestagswahl.

Mich fröstelt es gerade. Das liegt aber nicht etwa daran, dass in meiner Wohnung die Heizung ausgefallen wäre...