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25. November 2017, von Michael Schöfer
Wie ein Fähnchen im Wind


"Eine große Koalition wäre Harakiri", kommentierte Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung, noch am Wahlabend des 24. September die missliche Lage der SPD. "Das Wahlergebnis zeigt: Die SPD ist in der großen Koalition nicht überlebensfähig. Sie wird in der Opposition erstarken und verhindern, dass die AfD das Feld übernimmt." [1]

Am darauffolgenden Montag legte Prantl nach: "Für die SPD ist Opposition nicht Mist, sondern Muss. (…) Der SPD-Vorsitzende Martin Schulz hat das sofort nach der krachenden Wahlniederlage seiner Partei in größtmöglicher Öffentlichkeit getan: Er hat erklärt, dass seine Partei in die Opposition geht. Das war und ist wichtig für die SPD, das ist richtig für das Land. Deutschland war zuletzt ein Land ohne Opposition; die AfD ist die Quittung. Gute Politik folgt dem Satz: Erst das Land, dann die Partei. Genau dieser Satz wirbt für die SPD als Oppositionspartei - weil eine kraftvolle Opposition überlebenswichtig für ein Land ist. Das Land braucht eine demokratisch erfahrene Opposition. Die AfD ist es nicht; die SPD ist es." [2]

Prantl hat das übrigens bereits zu Beginn der Großen Koalition prophezeit: "Der Koalitionsvertrag ist dick, aber nicht stark. Union und SPD wagen keine Reformen", schrieb er Ende November 2013. [3] Das klang nach Lähmung, das klang nach Mehltau - und genau das war der Eindruck, den die GroKo in den folgenden vier Jahren beim Wähler hinterließ. Dafür wurde sie bei der Bundestagswahl zu Recht bestraft.

"Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern", mag Heribert Prantl denken, denn nun will er die SPD buchstäblich in die Große Koalition hineinschreiben. "Acht Wochen lang hat die SPD so getan, als sei der Hauptgrund für ihre Wahlniederlage die große Koalition gewesen", beklagt er in der aktuellen Samstag-Ausgabe. [4] Wie bitte? Ist die GroKo für die SPD plötzlich kein Harakiri mehr? Ist sie entgegen seiner Analyse vom Wahlabend in der GroKo nun doch überlebensfähig? Bloß weil Jamaika gescheitert ist? "Viele Sozis fürchten, dass eine neuerliche große Koalition für sie eine 'Agenda Selbstmord' sein könnte. In dieser Befürchtung steckt ungeheuer viel Kleinmut", argumentiert er heute. Prantl kritisiert mithin das, was er noch vor zwei Monaten selbst gesagt hat. Allerdings kritisiert er bloß die SPD, seine eigenen Kommentare unterschlägt er geflissentlich. Kein "Mea Culpa", kein "Sorry, ich habe mich geirrt". Offenbar leiden nicht nur Politiker des Öfteren an simulierter Amnesie. Das ist peinlich, das ist schwach, das ist beliebig, das ist mit Sicherheit kein Qualitätsjournalismus. Wie sollen Politiker Rückgrat entwickeln, wenn sich sogar die selbsternannten Leitmedien wie ein Fähnchen im Wind drehen?

Prantl behauptet, das Scheitern von Jamaika habe die politische Grundkonstellation verändert. Es gebe derzeit keine Regierung, gegen die die SPD in der Opposition Front machen könnte. Und eine Minderheitsregierung sei für sie noch unbequemer als für Merkel. Doch das kann man auch anders sehen, wie die Durchsetzung der "Ehe für alle" kurz vor Ende der letzten Legislaturperiode gezeigt hat. Die wurde nämlich mit den Stimmen der SPD, der Linken, der Grünen und 75 Abweichlern aus den Reihen der Union beschlossen. Die Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion stimmte dagegen. Das sei eine Sternstunde des Parlaments gewesen, hieß es anschließend, wohltuend losgelöst von Koalitionsverträgen und Fraktionszwängen. Solche Sternstunden könnte es künftig öfter geben.

Was spricht eigentlich dagegen, wenn die SPD in Europafragen mit der Union stimmt, aber beim Datenschutz gemeinsam mit der FDP, den Linken und den Grünen? Schauen, was im Deutschen Bundestag geht, in jedem Einzelfall nach Mehrheiten suchen und Abgeordnete anderer Fraktionen mit den besseren Argumenten zu überzeugen versuchen. Die politische Taktik, das Geben und Nehmen, wird dadurch gewiss nicht verschwinden. Im Gegenteil, es wird wichtiger denn je, weil nichts von vornherein festgezurrt ist. Lebendiger Parlamentarismus eben. Und sicherlich das beste Mittel gegen die AfD. Für die Rechtspopulisten wäre die Neuauflage der GroKo zweifellos ein Lebenselixier. Auch 2021 wird wieder gewählt. Was durch eine permanente GroKo passieren kann, sieht man in Österreich, wo die Sozialdemokratie mittlerweile nur noch hauchdünn vor der rechtspopulistischen FPÖ rangiert.

Dass es in Deutschland gegenwärtig keine gewählte Regierung gibt, ist ohnehin nur eine Übergangsphase. Nach dem Grundgesetz muss der Bundespräsident dem Bundestag einen Kanzler vorschlagen. Er hat gar keine andere Wahl. Das Dilemma der SPD ist eigentlich ganz einfach aufzulösen: Die Wahl des Kanzlers findet laut Geschäftsordnung des Bundestages geheim statt. Wenn Merkel, woher auch immer, die Kanzlermehrheit bekommt, ist Steinmeier aus dem Spiel, weil es keinen dritten Wahlgang gibt. Die SPD könnte Merkel so in ein Minderheitskabinett zwingen und sich gleichzeitig die GroKo sowie Neuwahlen ersparen. Ob es wirklich die SPD gewesen ist, die Merkel die Kanzlermehrheit verschafft hat, wird man wegen der geheimen Abstimmung wohl nie sicher erfahren.

Ein vorgeschlagener Bundeskanzler, der die Kanzlermehrheit bekommt, ist vom Bundespräsidenten zu ernennen. Steinmeier hat da nicht den geringsten Spielraum, die Minderheitsregierung wäre im Amt. Und die sitzt dort ziemlich stabil, wäre nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum von der Regierungsbank zu vertreiben. Oder wenn Angela Merkel die Vertrauensfrage stellt und die Abstimmung verliert. Dazu kann sie aber niemand zwingen. Außerdem wird sie sich das sicherlich gut überlegen. Erst nach einer verlorenen Vertrauensfrage liegt es wieder in der Hand des Bundespräsidenten, ob er den Bundestag auflöst. Er kann das, muss es aber nicht. Deutschland ist, den Verfassungsvätern sei Dank, niemals ohne Regierung, selbst wenn sie bloß die Geschäfte führt. Und demzufolge auch niemals ohne Opposition. Der Bundestag ist voll handlungsfähig, könnte sofort mit der Gesetzgebungsarbeit beginnen.

Man sagt, ein Minderheitskabinett habe bei uns keine Tradition. Auf Bundesebene ist das korrekt. Aber eine GroKo hatte bei uns bis 1966 ebenfalls keine Tradition, dass die stärkste Fraktion in die Opposition muss, bis 1969 ebenso wenig. Es gibt immer ein erstes Mal, vielleicht wird ja mit der Minderheitsregierung eine neue Tradition begründet. So wie es derzeit aussieht, müssen wir uns wohl an ein Parlament gewöhnen, in dem sechs Parteien sitzen. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als alte Zöpfe abzuschneiden und Neues auszuprobieren. Eine Jamaika-Koalition beispielsweise. Oder notfalls eine Minderheitsregierung. Es ist daher kleinmütig, Abgestandenem wie der GroKo mit Gewalt neues Leben einhauchen zu wollen.

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[1] Süddeutsche vom 24.09.2017
[2] Süddeutsche vom 25.09.2017
[3] Süddeutsche vom 28.11.2013
[4] Süddeutsche vom 24.11.2017