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27. Mai 2017, von Michael Schöfer
Glaube denen, die die Wahrheit suchen


Es ist schwer, etwas zu beurteilen, wenn man nicht dabei ist, denn zwangsläufig ist man dann auf die Berichte anderer angewiesen. Die mögen stimmen oder auch nicht. Und das, was die Nachrichten zeigen, wird zu guter Letzt auch noch völlig unterschiedlich gedeutet. Das beste Beispiel hierfür ist derzeit Südamerika.

Sowohl in Venezuela als auch in Brasilien gibt es ernsthafte Zweifel an der Legitimität der jeweiligen Regierung. Offenkundig versuchen beide Präsidenten, sich mit rechtswidrigen Methoden an der Macht zu halten. Das venezolanische Volk macht die Regierung in Caracas, das brasilianische Volk wiederum die in Brasilia für die schwere Wirtschaftskrise ihrer Länder verantwortlich. Und in beiden gibt es Massendemonstrationen, die zuletzt in Gewalt ausarteten. Bis dahin ist das noch eine reine Tatsachenfeststellung.

Doch genau hier trennt sich, je nach ideologischem Filter der Kommentatoren, die politische Bewertung. In Brasilien habe es friedliche Demonstrationen gegeben, die jedoch von der massiv auftretenden Polizei in ein Schlachtfeld verwandelt wurden, dürfen wir bei einem lesen. Vermummte Gewalttäter hätten offenbar unter dem Schutz der Polizei randaliert. Agent Provocateurs, wie er unterstellt. Ich will nicht in die Einzelheiten gehen, doch sein Resümee liegt sonnenklar auf der Hand: Gute (weil mutmaßlich linke) Demonstranten gegen schlechte (weil rechte) Regierung. Das gleiche Bild bietet sich in Venezuela, wird von ihm allerdings ganz anders interpretiert. Auch dort scheint sein Resümee von vornherein festzustehen: Schlechte (weil mutmaßlich rechte) Demonstranten gegen gute (weil linke) Regierung. Der Witz ist, dass er über Nicolás Maduro (Venezuela) voll des Lobes ist und im gleichen Atemzug Michel Temer (Brasilien) verdammt. Dabei ist in meinen Augen die Legitimität beider Präsidenten höchst fragwürdig.

Auf das Urteil derer, die aus ideologischen Gründen Unterdrückungsmaßnahmen einmal rechtfertigen und einmal verurteilen, kann man getrost verzichten. Aufklärung über das, was dort tatsächlich passiert, ist von ihnen kaum zu erwarten, denn Objektivität sieht anders aus. Und die Crux ist, dass sie den Medien auch noch Meinungsmache vorwerfen. Wenn du mit dem Finger auf andere Menschen zeigst, zeigen drei Finger auf dich selbst zurück! Anders ausgedrückt: "Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die sie gefunden haben." (André Gide)