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24. März 2019, von Michael Schöfer
Man muss nur wollen


Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet ein Liberaler der keynesianischen Nachfragetheorie zu einer unerwarteten Renaissance verhilft und damit sogar noch Erfolg zu haben scheint. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat unter dem Eindruck der Gelbwesten-Proteste "unter anderem eine Prämie für Mindestlohn-Bezieher erhöht, Steuern auf Überstunden abgeschafft und einen Großteil der Rentner von einer Sozialsteuer befreit. All das, erwartet die Banque de France, führt zu einer kräftigen Steigerung der Kaufkraft je Einwohner um mehr als zwei Prozent. Das schlägt sich dann in höheren Konsumausgaben nieder." [1] Die Ausgaben in Höhe von 10 Mrd. Euro sind offenbar gut angelegt, denn den Prognosen zufolge soll das französische Wirtschaftswachstum 2019 doppelt so hoch ausfallen wie das deutsche. Zudem wird die Arbeitslosigkeit voraussichtlich weiter sinken. Wermutstropfen: Die Verschuldung steigt und verletzt die EU-Defizitregeln.

Allerdings passt das ebenfalls zum Keynesianismus, der ja im Kern auf einer Anschubfinanzierung per deficit spending beruht, um die Konjunktur zu beleben. Während Konservative und Liberale in der Krise zum prozyklischen Sparen neigten und dadurch die Krise noch verschärften, setzte John Maynard Keynes ganz auf antizyklisches Verhalten: In Krisenzeiten zusätzlich investieren, aber während des Booms sparen und die zuvor angehäuften Defizite wieder ausgleichen. Hätte Macron nicht die Vermögensteuer abgeschafft, wovon naturgemäß allein die Reichen profitieren, würde das französische Haushaltsdefizit geringer ausfallen.

Ausgelöst wurden die Massenproteste der "Gilets jaunes" durch die ursprünglich geplante Anhebung der Treibstoffabgaben. Das war der berühmt-berüchtigte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. 14 Prozent der Franzosen leben unterhalb der Armutsgrenze. In der Provinz sind Arbeitsplätze rar, doch in den Ballungsräumen, insbesondere in Paris, können sich selbst Durchschnittsverdiener keine Wohnung mehr leisten. Nach einer aktuellen Studie verdienen die Gelbwesten-Demonstranten im Durchschnitt 1.486 Euro im Monat und damit 291 Euro weniger als im Landesdurchschnitt. [2] Das britische Marktforschungsunternehmen Economist Intelligence Unit (EIU) hat weltweit 133 Städte miteinander verglichen und dabei die Kosten von 160 Indikatoren wie Miete, Nahverkehr, Bildungseinrichtungen oder Lebensmittel ausgewertet. Danach liegt Paris an der Spitze und darf sich mit dem Titel "Teuerste Stadt der Welt" schmücken. [3] Nach einer Erhebung der Deutschen Bank (Mapping the Worldʹs Prices 2018) kostete im vergangenen Jahr in Paris eine Drei-Zimmer-Wohnung im Schnitt rund 2.100 Euro Miete. [4]

Niedriglöhne und stark steigende Lebenshaltungskosten sind eine explosive Mischung, was selbstverständlich die anarchische Gewalt durch die Gilets jaunes keinesfalls rechtfertigt. Andererseits muss man nüchtern konstatieren, dass die üblichen politischen Mechanismen vorher keine Änderung bewirkten. Im Gegenteil, das saturierte Bürgertum hat die soziale Spaltung der Gesellschaft und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich überwiegend ignoriert, solche negativen Aspekte erweisen sich halt beim Shopping als ungemein störend. Die Betroffenen wurden viel zu lange mit einer "Wir-machen-mal-so-als-ob"-Politik abgespeist, die die prekäre Situation der Menschen faktisch weiter verschärfte. Übrigens nicht bloß in Frankreich, sondern in fast allen westlichen Industriestaaten. Gelbwesten kommen genauso wenig aus dem luftleeren Raum wie Donald Trump, der Brexit oder die Rechtspopulisten. Bedauerlicherweise reagieren auch die Medien erst dann, wenn es irgendwo richtig Zoff gibt. Und zugegebenermaßen haben die Gilets jaunes etwas bewirkt.

Nur darf man jetzt nicht den Fehler machen, das Soziale gegen den Umweltschutz auszuspielen. Wir brauchen beides: mehr Gerechtigkeit und mehr Klimaschutz. Der Ökonom Ottmar Edenhofer hat einen eleganten Vorschlag gemacht, beides miteinander zu verbinden. Er fordert die Einführung einer CO2-Steuer, zusätzliche Einnahmen sollten durch eine pauschale Rückvergütung an alle Privathaushalte ausgeschüttet werden. Vermögendere Haushalte, deren Konsumverhalten mehr CO2 verursacht, würden dadurch tendenziell höher belastet als einkommensschwächere Haushalte, die spritsparendere Autos fahren und seltener fliegen. Der Vorschlag hat zweifellos Charme.

Was wir uns freilich nicht leisten können, ist soziale und umweltpolitische Ignoranz. Und wie man sieht: Es geht, wenn man will.

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[1] Süddeutsche vom 23.03.2019
[2] Süddeutsche vom 21.03.2019
[3] Stuttgarter Zeitung vom 20.03.2019
[4] Idee plus Geld vom 09.10.2018