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16. Juni 2019, von Michael Schöfer
Das Patentrezept: Wohnen bei der Deutschen Bahn


Manche Vergleiche machen wenig Sinn, beispielsweise Deutschlandkarten mit einer Übersicht über die Miethöhe in ausgewählten Städten. Was nützt es mir zu erfahren, dass in Chemnitz die Miete für eine 65 qm große Wohnung mit 5,16 Euro pro Quadratmeter besonders günstig ist? Nur 75 Prozent des deutschen Durchschnitts sollen das sein. Na und jetzt?

465 km Anfahrtsweg dürften das Pendeln, milde ausgedrückt, ein bisschen erschweren. Um pünktlich an meinem Arbeitsplatz zu erscheinen, müsste ich nämlich bereits am Vortag um 22:36 Uhr am Chemnitzer Hauptbahnhof losfahren. Ohne Schlafwagen, versteht sich. Dreimal umsteigen inbegriffen. Und wenn ich nachmittags in Mannheim pünktlich aufbreche, komme ich abends gerade noch rechtzeitig in Chemnitz an, um gleich anschließend wieder den nächsten Zug zur Arbeit zu nehmen. Von den horrenden Fahrtkosten ganz zu schweigen. Mit einem Wort: absurd.

So gesehen wird selbst die günstigste Wohnung überflüssig, denn dann könnte ich ja gleich ganz bei der Bahn wohnen. Obwohl... 4.395 Euro pro Jahr für die Bahncard 100 (2. Klasse), macht monatlich 366,25 Euro. Hm, günstiger als meine aktuelle Wohnung. Nur mit dem Ausrechnen des Quadratmeterpreises habe ich Probleme. Umgerechnet auf das Schienennetz der Deutschen Bahn (2018: 33.400 km) ist das Angebot im Vergleich zu den Mieten zwar unschlagbar günstig, doch leider sind die Zweifel an der Bezugsgröße allzu berechtigt. Darf man bloß die jeweilige Zuglänge heranziehen? Und wo erfährt man die? Beeinflussen Fahrplanänderungen die Kosten pro Quadratmeter?

Die Vorteile sind jedoch bestechend: In manchen Bahnhöfen kann man sogar duschen, zudem haben die Geschäfte dort viel länger geöffnet. Zeitungen, Bücher, Reisebedarf, Essen - alles auf kleinem Raum nah beieinander. WLAN ist mittlerweile in den Zügen selbstverständlich, demnächst auch im Regionalverkehr. Freundliche Damen und Herren bringen einem den Kaffee direkt am Sitzplatz vorbei, das Abteil wird regelmäßig gereinigt und einsam ist man in der rollenden Deutsche Bahn-Wohnung ebenfalls so gut wie nie. Was will man mehr?

Wer Wert auf Luxus legt, sollte sich die Bahncard 100 der 1. Klasse leisten: 7.435 Euro pro Jahr. Im Vergleich zu Luxuswohnungen sind das zu vernachlässigende 619,58 Euro pro Monat. Nebenkosten (Strom, Heizung, Abwasser) inklusive. Bei der 1. Klasse gibt es den gastronomischen Service am Sitzplatz und, falls einem doch mal langweilig ist, kostenlose Tageszeitungen dazu. Abo der Süddeutschen? Kann man sich sparen. Schlafen während der Fahrt? Reine Gewöhnungssache.

Jetzt muss ich bloß noch der Bundesregierung Bescheid sagen, dass ich durch meinen genialen Einfall die Wohnungsnot mit einem Schlag gelöst habe. Wir pendeln künftig nicht mehr zwischen Wohnung und Arbeitsplatz. Nein, wir erklären vielmehr das Pendeln zur kultivierten Wohnform. Gewissermaßen eine Veredelung des Nomadentums. Kleiner Nebeneffekt: Bahnchef Richard Lutz könnte wieder steigende Gewinne verkünden. Es ist mir ein Rätsel, warum nicht schon früher jemand auf diesen großartigen Gedanken gekommen ist. Genau, great... Mit "G" wie Glosse.