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18. November 2019, von Michael Schöfer
Die krude Denkweise der Begüterten


Chile gehört zu den Ländern, in denen die Ungleichheit am höchsten ist. Cristóbal Rovira Kaltwasser, Professor für Politikwissenschaft an der Diego Portales University in Santiago de Chile, hat vor einem Monat im britischen Guardian darauf hingewiesen, dass die unteren 20 Prozent der chilenischen Bevölkerung weniger als 140 Dollar pro Monat verdienen (und die untere Hälfte etwa 550 Dollar). [1] Bei europäischem Preisniveau, versteht sich. Laut einem UN-Bericht aus dem Jahr 2017 erzielt dagegen das oberste Prozent der Chilenen 33 Prozent der Gesamteinkünfte (und die obersten 0,1 Prozent der Superreichen 19,5 %). [2] Der Gini-Koeffizient, ein statistischer Maßstab für Verteilungsgerechtigkeit (je höher, desto ungleicher), lag dort 2017 bei 46,6. [3] Zum Vergleich: In Deutschland betrug er 29,1. [4]

Chiles Wirtschaft ist vom Marktradikalismus der Chicago Boys geprägt. Im Weltspiegel von gestern gab es einen aufschlussreichen Bericht, der die krude Denkweise der Begüterten entlarvte: Der Textilunternehmer Gonzalo Eresi lebt in einem exklusiven Vorort von Santiago de Chile mit Villen und Golfplätzen. "Er und seine Frau hätten viel über die Forderungen der Demonstranten nachgedacht. Gute Schulen für alle, eine bessere Gesundheitsversorgung für Arme? Ja, in Chile müsse sich vielleicht wirklich einiges ändern. 'Früher habe ich mir als Unternehmer nur Gedanken um die Zahlen, um den Profit gemacht. Jetzt merke ich, dass ich mich ein wenig mehr für das Wohlbefinden meiner Mitarbeiter interessieren muss. Absolut, wir sind produktiver, wenn sich alle wohlfühlen.'" [5]

Unglaublich: Selbst wenn es um Verteilungsgerechtigkeit geht, denkt der chilenische Textilunternehmer nur an die Produktivität seiner Firma. Dass ein zum Überleben ausreichendes Einkommen zu den Menschenrechten gehört, kommt ihm offenbar gar nicht in den Sinn. Menschenwürde? Ein bei Ökonomen sträflich vernachlässigter Wert. Gonzalo Eresi hat das anscheinend verinnerlicht: Bei ihm ist der Mensch lediglich Produktionsmittel und Konsument. Und wenn das Produktionsmittel produktiver ist, darf es großzügigerweise auch ein bisschen mehr vom gesellschaftlichen Wohlstand abbekommen. Aber die Menschenwürde ist bei Eresi kein Wert an sich, was sie jedoch sein sollte.

Dieses rein aufs Ökonomische begrenzte Denken gehört zweifelsohne zur hässlichen Seite des Kapitalismus. Kein Wunder, dass die Menschen zunehmend dagegen rebellieren. Und das nicht bloß in Chile. Wenn die Ungleichheit weiter zunimmt, werden wir bestimmt noch häufiger Aufstände erleben.

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[1] Der Freitag vom 23.10.2019
[2] amerika21 vom 19.06.2017 und UNDP (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen), Desiguales, Orígenes, cambios y desafíos de la brecha social en Chile, Seite 22, PDF-Datei mit 3,5 MB
[3] Weltbank, GINI index (World Bank estimate) - Chile
[4] Eurostat, Gini coefficient of equivalised disposable income
[5] ARD, Weltspiegel vom 17.11.2019, Chile: Aufstand im wirtschaftlichen "Musterstaat"