Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



26. März 2020, von Michael Schöfer
Die Helden des Alltags


Krisen bringen den zwiespältigen Charakter des Homo sapiens zum Vorschein: Einerseits rücken jetzt wieder die skrupellosen Krisengewinnler in unser Bewusstsein, die dringend benötigte Schutzmasken zu horrenden Preisen verhökern. Der Markt (Angebot und Nachfrage) gibt’s ja her. Andererseits danken wir plötzlich Menschen, die wir bislang kaum beachtet haben. Letztere heißen neuerdings "Helden des Alltags", weil sie in der Coronakrise den Laden am Laufen halten. Gemeint sind Beschäftigte in "systemrelevanten Berufen": Ärzte, Pfleger, Müllmänner, Polizisten, Einzelhandelsmitarbeiter, Paketboten etc. Ein Novum: Der Bundestag hat ihnen gestern im Stehen applaudiert. In anderen Ländern applaudiert ihnen die Bevölkerung sogar von den Balkon. Ein keinesfalls zu vernachlässigendes Zeichen der Wertschätzung. Doch ist es auch ernst gemeint, wird die Wertschätzung die Coronakrise überdauern?

Was das angeht sind erfahrungsgemäß Zweifel angebracht. Wenn es ans Sterben geht, kehren gelegentlich selbst notorische Atheisten zum Glauben zurück. Frei nach Blaise Pascal: "Wenn es keinen Gott gibt, schadet es nichts. Wenn es ihn aber doch geben sollte, nützt es vielleicht." Ob Gott, falls es ihn tatsächlich geben sollte, Opportunisten mag, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Wie dem auch sei, opportunistisch ist zumindest das Verhalten der Bundestagsabgeordneten: Wer hat denn in der Vergangenheit dafür gesorgt, dass unser Gesundheitssystem auf Effizienz getrimmt wurde? Wer hat denn lange Zeit die beredten Klagen über überlastetes respektive fehlendes Personal konsequent überhört? Wer hat denn bereitwillig auf die jungen Schnösel mit ihrem ökonomischen Neusprech gehört, die frisch vom BWL-Studium zu den Beratungsfirmen wechselten und dann plötzlich allen anderen die Welt erklärten? Wer hat sich denn jahrelang gegen einen gesetzlichen Mindestlohn gesperrt, von dem jetzt wundersamerweise einige "Helden des Alltags" profitieren? Die Wertschätzung, die sie in der aktuellen Krise erfahren, beruht doch auf jahrzehntelanger Geringschätzung. Nun müssen beispielsweise auf die Schnelle Notmaßnahmen beschlossen werden, weil die auf Effizienz getrimmten Krankenhäuser sonst wegen der Freihaltung von Betten auf den Intensivstationen und dem Aufschieben von nicht notwendigen Operationen in die Pleite zu rutschen drohen.

Das Trimmen auf Effizienz hörte sich etwa so an: "Die effiziente Verwendung der eingesetzten finanziellen Mittel ist (...) von großer Bedeutung. Allerdings bestehen Indizien für Überkapazitäten im deutschen Gesundheitssystem. Dies zeigt sich im internationalen Vergleich beispielsweise an einer hohen Anzahl an Krankenhausbetten je Einwohner und einer vergleichsweise langen Krankenhausaufenthaltsdauer. Um dieser Überversorgung zu begegnen, sollten stärker wettbewerbsfördernde Elemente zum Einsatz kommen." [1] Mit "wettbewerbsfördernden Elementen" ist mehr Markt gemeint.

Noch vor knapp eineinhalb Jahren machte also der Sachverständigenrat "Überkapazitäten im deutschen Gesundheitssystem" aus - und heute müssen wir in Messehallen Notkrankenhäuser errichten, weil die vorhandenen Kapazitäten des Gesundheitssystems offenkundig zu gering sind. Mit anderen Worten: In der Coronakrise sind wir für jede "Überkapazität" dankbar, die noch nicht wegrationalisiert wurde. Verzeihung: Deren Effizienzpotenzial noch nicht wettbewerbsfördernd genutzt wurde. Dass wir im internationalen Vergleich eine hohe Anzahl an Intensivbetten haben, rettet nun konkret Leben (zum Vergleich: Deutschland: 28.000 für 83 Mio. Ew., Italien: 5.000 für 60 Mio. Ew.). In Ländern, in denen diese vermeintlichen "Überkapazitäten" bereits abgebaut wurden, müssen die Ärzte nun mittels Triage darüber entscheiden, wer behandelt wird oder sterben muss. Die Coronakrise brachte es an den Tag: Es fehlt an allem: an Beatmungsgeräten, an Schutzkleidung, an Ärzten und Pflegern. Und wir haben nicht zu viel, sondern die anderen haben noch viel weniger. Anders ausgedrückt: Unter Blinden ist der Einäugige König. Aus der Sicht der Ökonomen sind in Normalzeiten nutzlos herumstehende Beatmungsgeräte natürlich ein überflüssiger Kostenfaktor. Doch diese Durchökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche entpuppt sich spätestens jetzt als Irrweg. Ob uns mehr "wettbewerbsfördernde Elemente" geholfen hätten, ist zu bezweifeln. Sie hätten uns vielmehr noch tiefer in die Krise getrieben.

Zweifel sind aber auch in anderer Hinsicht angebracht. Die "Helden des Alltags", die den Laden - oft für wenig Geld - am Laufen halten, sollten keinesfalls auf die Dauerhaftigkeit der ostentativ zur Schau gestellten Wertschätzung vertrauen. Sobald die Krise vorbei ist, wird nämlich auch hier wieder der Alltag einsetzen (der Mensch vergisst bekanntlich schnell). Das heißt etwa für Paketboten und Einzelhandelsmitarbeiter wie gehabt: wenig Anerkennung, wenig Einkommen, hohe Arbeitsbelastung. Die BWL-Schnösel werden erneut die Ministerien bevölkern und den Laden wie ehedem auf Effizienz trimmen. Sobald man glaubt, auf die Menschen, die jetzt dringend gebraucht werden, wieder verzichten zu können (die Krise ist dann ja erfolgreich überstanden), kehrt gewissermaßen Normalität ein. Falls unser Wirtschaftssystem den fast vollständigen Shutdown überleben sollte, wird es seine Prinzipien bestimmt weiterverfolgen. Pessimismus? Nein, Realismus, so ist halt die menschliche Natur.

----------

[1] Sachverständigenrat, Jahresgutachten 2018/19, Über Wettbewerb mehr Effizienz im Gesundheitswesen, PDF-Datei mit 2 MB