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05. April 2020, von Michael Schöfer
Macht man den Menschen unnötig Angst?


"Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Ansprache im Fernsehen. Selbstverständlich darf man das Coronavirus (SARS-CoV-2) nicht unterschätzen, aber man sollte den Menschen auch nicht unnötig Angst einjagen. SARS-CoV-2 ist nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) tödlicher als die Grippe (Influenza), bei der die Mortalitätsrate bei 0,1 bis 0,2 Prozent liegt, und dürfte nach den bisherigen Erkenntnissen zehnmal tödlicher sein, was auf eine keinesfalls zu vernachlässigende Mortalitätsrate von 1 bis 2 Prozent hindeutet. Sie kann niedriger, aber auch höher liegen. Zum Vergleich: Die Mortalitätsrate der Spanischen Grippe wird auf über 2,5 Prozent geschätzt. Da es bislang keine belastbaren Daten über die Höhe der Dunkelziffer gibt, wird man die ganze Wahrheit wohl erst nach der Pandemie kennen. Die erschreckend hohe Zahl der Toten in Italien oder Spanien ist offenbar vor allem der miserablen Ausstattung des dortigen Gesundheitssystems geschuldet. [1] Anscheinend wurde in der Vergangenheit am falschen Ende gespart und die Daseinsvorsorge sträflich vernachlässigt, doch das waren politische Fehlentscheidungen.

Unnötig Angst macht man den Menschen, wenn jetzt in der Presse ständig Artikel über wesentlich verheerendere Seuchen zu lesen sind. So stand beispielsweise gestern in der Süddeutschen ein Artikel über die Justinianische Pest im Jahr 542. [2] Neuere Untersuchungen haben bestätigt, dass tatsächlich ein Erreger vom Stamm Yersinia pestis die Ursache war, der den historischen Beschreibungen zufolge die Lungen- und Beulenpest auslöste. Das mag durchaus interessant sein, aber der Justinianischen Pest fielen damals bis zu 50 Prozent der Bevölkerung zum Opfer, weshalb sich jegliche Analogie zu SARS-CoV-2 von vornherein verbietet. Auch andere Medien berichteten über die Justinianische Pest, wobei in letzter Zeit Artikel über die großen Epidemien der Geschichte ohnehin Konjunktur haben. Doch nicht nur das, es wird nun auch die Literatur bemüht. Leider, wenn man sie gewissenhaft interpretiert, sogar zu Unrecht.

"Die Pest" von Albert Camus sei das Buch der Stunde, liest man allenthalben. Es gibt öffentliche Vorlesungen des Werks, an denen sich Prominente beteiligen. "In fast schon dystopischer Präzision scheint 'Die Pest' die heutigen Entwicklungen in der Corona-Krise vorwegzunehmen", verkündet der ORF düster. [3] Doch das ist öffentlich-rechtliche Panikmache, denn Albert Camus ging es weniger um die Seuche, vielmehr ist sein 1946 fertiggestelltes Buch als Parabel zu verstehen. Die Pest steht bei Camus stellvertretend für die Nazis und den von ihnen entfachten Krieg. Ganz am Ende, nach Überwindung der Seuche, heißt es dort: Dr. Bernard Rieux wusste, "daß der Pestbazillus niemals ausstirbt oder verschwindet, sondern jahrzehntelang in den Möbeln und der Wäsche schlummern kann, daß er in den Zimmern, den Kellern, den Koffern, den Taschentüchern und den Bündeln alter Papiere geduldig wartet und daß vielleicht der Tag kommen wird, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und erneut aussenden wird…" [4] Die Nazis sind die Ratten, die zu Beginn des Buches aus den Löchern gekrochen kommen und die Seuche über die Stadt bringen. Das liegt ganz auf der Linie von Bert Brecht, der im Epilog des bereits 1941 entstandenen Theaterstücks "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" mahnt: "Die Völker wurden seiner Herr, jedoch / Dass keiner uns zu früh da triumphiert - / Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch."

Wenn man den Menschen übertriebene Angst einjagt, neigen sie auch zu panischen Überreaktionen. Verfassungsrechtler sehen ja schon mit Sorge, welche Maßnahmen jetzt gegriffen werden, und bei denen sie sich fragen, ob das so in allen Einzelheiten überhaupt noch vom Grundgesetz gedeckt ist. Die Verfassung ist ja gerade als letzte Sicherungslinie in Schlechtwetterperioden gedacht. Ein Mindeststandard, der keinesfalls unterschritten werden darf - ganz egal, was da kommen mag. Wer diese Gefahr als vernachlässigbar abtut, erweist der Demokratie einen schlechten Dienst.

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[2] Süddeutsche vom 03.04.2020
[3] ORF vom 02.04.2020
[4] Albert Camus, Die Pest, Hamburg 1950, Seite 202