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09. Juni 2020, von Michael Schöfer
Bitte keinen Generalverdacht äußern


Als die damalige Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen im Jahr 2017 der Bundeswehr angesichts von rechtsextremistischen Vorfällen ein "Haltungsproblem" attestierte, erntete sie viel Widerspruch. Bitte keinen Generalverdacht äußern, hieß es allenthalben. Doch nach dem kürzlich bekanntgewordenen Fall eines mutmaßlichen Rechtsextremisten im Kommando Spezialkräfte (KSK), sah sich der Kommandeur des KSK, Brigadegeneral Markus Kreitmayr, sogar genötigt, einen Brandbrief an seine Soldaten zu schicken. Das war der berühmt-berüchtigte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Weiterhin den Kopf in den Sand zu stecken, hätte nicht geholfen.

"Wir müssen uns dieser Realität stellen, denn unser aller Ruf, die Reputation unseres Verbands und das Ansehen der Bundeswehr stehen auf dem Spiel", heißt es darin. "Wir haben geschworen, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. Das heißt, Verfassungstreue ist unsere Pflicht und Mäßigungsgebot sowie Wohlverhaltenspflicht gehören untrennbar dazu. So haben wir unsere Verfassung nicht nur anzuerkennen, sondern müssen aus innerer Überzeugung und Pflichtbewusstsein innerhalb und außerhalb des Dienstes, ob in oder ohne Uniform, aktiv für sie eintreten und sie verteidigen. Der Präsident des BAMAD [Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst] bringt es in seinem Vorwort zum MAD-Report 2019 auf den Punkt: 'Verfassungspatriotismus ist unser Beruf.' Damit rufe ich all diejenigen, die sich möglicherweise noch in unseren Reihen befinden und genau wissen, dass sie diesen verbindlichen Ansprüchen und Anforderungen nicht gerecht werden oder gar mit dem rechten Spektrum sympathisieren, klar, unmissverständlich und entschlossen zu: Sie verdienen unsere Kameradschaft nicht! Sie gehören nicht zu uns! Sie sollten aus eigenem Antrieb unseren Verband und die Bundeswehr verlassen! Tun Sie es nicht, werden Sie feststellen, dass wir Sie finden und entfernen werden!" [1] Ein eindrucksvolles Bekenntnis zur Verfassungstreue und zur Aufklärungsbereitschaft (dem Fegen vor der eigenen Haustür). Das Leugnen von Tatsachen ist ein vielfach erprobtes Mittel der Reinwaschung einer Organisation. Motto: Was nicht sein darf, das kann auch nicht sein. Gut, dass sich Kreitmayr der Realität stellte und sie nicht geleugnet hat.

Angesichts des brutalen und rassistischen Vorgehens der amerikanischen Polizei kocht in Deutschland eine Diskussion um den Rassismus innerhalb der hiesigen Sicherheitsbehörden hoch. "Auch in Deutschland gibt es latenten Rassismus in den Reihen der Sicherheitskräfte, die durch Maßnahmen der Inneren Führung erkannt und bekämpft werden müssen", meint die SPD Co-Vorsitzende Saskia Esken. Allerdings relativiert sie gleich im Anschluss: "Dabei stehe die große Mehrheit der Polizeibediensteten solchen Tendenzen sehr kritisch gegenüber und leide unter dem potenziellen Vertrauensverlust, der sich daraus ergebe." [2] Esken will eine unabhängige Stelle mit der Aufarbeitung solcher Fälle betrauen.

Erwartungsgemäß reagieren Polizeigewerkschafter und konservative Politiker so, wie man das von ihnen seit langem gewohnt ist. Der unvermeidliche Rainer Wendt (DPolG) beklagt, "die Empörung bei Kollegen sei groß. Sie erwarteten von der politischen Führung Rückendeckung in einer solch schwierigen Situation. (…) Die Polizei unter Generalverdacht zu stellen, wie es die SPD-Vorsitzende Saskia Esken tue, sei nicht hinzunehmen", sagt der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU). [3] Rainer Wendt lässt sich sogar dazu hinreißen, die Einführung eines Polizeibeauftragten im Bundesland Berlin als "linksgrüne Paralleljustiz" zu verunglimpfen. [4]

Bitte keinen Generalverdacht äußern, lautet die übliche Verteidigungslinie. Überall. Und gleich beim geringsten Anlass den Beleidigten spielen, hat sich ebenfalls bewährt. Aber hat Saskia Esken überhaupt einen Generalverdacht geäußert? Ihre Aussage, dass die große Mehrheit der Polizeibediensteten rassistischen Tendenzen sehr kritisch gegenüberstehe und sogar unter dem daraus resultierenden potenziellen Vertrauensverlust leide, wird geflissentlich übersehen. Warum differenzieren, das stellt bloß das mühsam aufgebaute Feindbild infrage, stattdessen reitet man lieber weiterhin auf der Empörungswelle. Eskens Aussage ist genau besehen das Gegenteil eines Generalverdachts. Die Politikerin fordert lediglich dazu auf, den Beschwerden und Vorkommnissen eingehender auf den Grund zu gehen. Und zwar mithilfe einer eigens dafür einzurichtenden unabhängigen Stelle. Was ist daran so schlimm? Wieso soll die unabhängige Prüfung des Verhaltens von Staatsbediensteten, die im Dienste der Bürger stehen, unlauter sein? Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.

Wenn es um die Kontrolle der Bevölkerung geht, ist den Sicherheitsbehörden fast jedes Mittel recht. Jedenfalls oft mehr, als das Bundesverfassungsgericht gutheißt. Wenn es jedoch um die Kontrolle der Arbeit der Sicherheitsbehörden geht, wird gerne abgeblockt. Wie soll denn die von Rainer Wendt geforderte "Rückendeckung" aussehen? Ego te absolvo? Dafür ist der Papst zuständig, die Politik muss demgegenüber die Interessen der gesamten Gesellschaft berücksichtigen. Zur Erinnerung: Der Staat ist für die Bürger da, nicht umgekehrt. Gerade durch die Weigerung, sich genauer unter die Lupe nehmen zu lassen, wächst das Misstrauen in der Bevölkerung. Wendt mag es bedauern, aber Rot-Rot-Grün hat nun mal 2016 bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 52,4‬ Prozent bekommen, seine CDU dagegen magere 17,6 Prozent. Und er kann ja wohl kaum erwarten, dass sich die Mehrheit nach der Minderheit richtet.

Die Bundeswehr hat lange Zeit ähnlich argumentiert, wie es heute viele Polizeigewerkschafter tun. Wagenburgmentalität. Aber sie hat offenbar dazugelernt. Diesen Lernprozess haben die Polizeigewerkschafter noch vor sich. Dabei unterstellen vernünftige Menschen weder der Bundeswehr noch der Polizei, generell rechtsextrem oder rassistisch zu sein, aber vielleicht sind es auch nicht bloß die vielbeschworenen Einzelfälle. Da hilft nur totale Transparenz und lückenlose Aufklärung. Wenn etwas dabei herauskommt, nützt das schließlich auch der Bundeswehr und der Polizei. Und falls nichts dabei herauskommt - umso besser.

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[1] Augen geradeaus vom 26.05.2020
[2] ZDF vom 08.06.2020
[3] ZDF vom 09.06.2020